Kapitel 4 : Glutwind

„Was soll ich hier?“, fragte Quartez nun gefasster.
Als er sich dem Gitter der Zelle näherte, bemerkten die drei Gefährten, daß die Wächter vorsichtig einen Schritt zurücktraten.
„Ihr braucht euch an diese neue Umgebung nicht gewöhnen!“, erklärte der wortführende Wächter. „Der Oberste Richter hat entschieden, euch die Möglichkeit einzuräumen, eure wohlverdiente Strafe als Galeerensklave zu sühnen! Morgen früh werdet ihr bereits an Bord gehen und dann wird das gemütliche Zellenleben ein Ende für euch haben!“.
Die anderen Wächter lachten, während Quartez das Gesagte ungerührt zur Kenntnis nahm.
„Heh, Wächter!“, sagte Terzon und lenkte die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich.
„Holt Richter Maturias! Ich habe beschlossen, ein Geständnis zu unterschreiben. Das Gleiche gilt für meine Gefährten!“.
Der angesprochene Wächter grinste höhnisch.
„Raubt die Furcht vor dem Galgen euch den Schlaf?“, fragte er, begleitet vom Gelächter seiner Gefährten, „der Henker wird untröstlich sein, daß ihre eure Verabredung absagen wollt!“.
Terzon ignorierte das Frotzeln der Wachen.
„Tut was ich sage!“, antwortete er befehlend, „Maturias hat gesagt, wir sollten nach ihm schicken lassen, wenn wir unsere Meinung ändern.“.
„Wie ihr wünscht!“, sagte der Wächter spöttisch und verließ gemeinsam mit den anderen Wachen den Raum.
Erstaunt realisierten die Gefangenen, daß sie sich zum ersten Mal ohne Bewachung im Inneren des Kerkers befanden.

„Was seid ihr für seltsame Gestalten?“, ertönte Quartez’ Stimme von der anderen Seite des Kerkers.
Der Pirat stand dicht hinter dem Gitter und spähte zu den drei Männern hinüber. „Warum hat man euch da zusammen eingesperrt?“.
„Ich bin Kapitän Terzon!“, antwortete Terzon und Rahne und Bai bemerkten den stolzen Unterton in der Stimme ihres Gefährten. „Ich bin Kapitän der Seehure!“.
„So, so“, sagte Quartez spöttisch, „der Seehure also…“.
Seiner Stimme war zu entnehmen, daß er den Namen des Schiffes bereits gehört zu haben schien.
„Warum hält man euch in all’ dem Licht?“, fragte Bai ohne sich vorzustellen.
Quartez grinste.
„Weil ich so schön bin!“, sagte er und drehte sich einmal um sich selbst.
„Diese Schwanzlutscher von Wachen möchten nicht, daß ich meinen wohlgeformten Leib in den Schatten verberge. Sicher hocken sie heimlich hinter der Tür und geilen sich an meinem Anblick auf!“.
Der Sarkasmus in Quartez’ Stimme war nicht zu überhören.
„Und ihr?“, wandte er sich an Bai, „was seid ihr? Ork?“.
Bai nickte ungerührt.
„Was ist mit eurer Haut passiert?“, erkundigte sich der Piratenkapitän und spielte auf die rostroten Flecken an, die Bais überwiegend grünliche Haut bedeckten.
„Sind das Brandnarben?“.
„Ihr habt es erfasst!“, brummte der Ork und warf einen heimlichen Blick auf seine Kameraden. Es kam ihm sehr gelegen, daß Quartez zu seiner Frage sogleich eine befriedigende Antwort geliefert hatte. Dennoch verspürte er ein gewisses Unbehagen unter dem stechenden Blick des schwarzhäutigen Piraten.
„Und ihr?“, fragte Terzon – Unwissen vortäuschend – „warum hat man euch hier eingesperrt?“.
Quartez lachte.
„Vor allem Piraterie! Gewalt gegen die Obrigkeit und nun Diebstahl im Arkanen Archiv von Shembanyor!“.
Der Name der legendären Bibliothek der Gilde der Wissenshüter war selbst Rahne geläufig. In ganz Angraenor wusste man von den magischen Schätzen – überwiegend Zauberbücher und magische Schriften – die die Mitglieder der Gilde dort seit Jahrhunderten zusammentrugen und unter außergewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen archivierten.
„Und?“, fragte Terzon, „hat es sich gelohnt?“.
„Ich würde nicht seit fünfzehn Jahren der Piraterie frönen, wenn es sich nicht lohnen würde!“, antwortete Quartez ausweichend.
Ragnolios rechte Hand schien kein Interesse daran zu haben, die Details über seinen Raub im Archiv vor ihnen auszubreiten.
„Es war klug von euch zu gestehen!“, sagte Quartez stattdessen.
„Nur Dummköpfe lassen sich hängen, wenn ihnen eine andere Wahl bleibt!“.
Die drei Männer nickten.
„Wir haben die Hoffnung, daß sich eines Tages eine Möglichkeit zur Flucht bietet, wenn man uns in die Minen oder an Bord einer Galeere schickt“, erklärte Bai.
„Zu Recht!“, entgegnete Quartez. „Ich habe schon einige Arbeitslager, Sträflingsminen und andere traurige Orte gesehen und bisher ist es mir stets gelungen, zu fliehen!“.
„Ihr wirkt äußerst zuversichtlich, daß euch das erneut gelingen wird.“, bemerkte Rahne leise.
„Oh ja!“, sagte der Pirat lächelnd, „ich habe große Hoffnung, daß ich eines Tages wieder segeln werde! Ein Wunder, daß diese verblödeten Richter mich nicht endgültig aufhängen, nachdem ich ihnen schon einige Male entkommen bin. Doch wer bin ich, es zu hinterfragen, wenn Klarakni mir so hold ist?“.

Das Quietschen von Schlüsseln in der schweren Kerkertür unterbrach die Unterhaltung abrupt.
Die Männer wendeten sich von den Gittern ab und taten so, als würden sie schweigend in der Zelle herumspazieren.
Richter Maturias und eine Gruppe Wächter traten ein und schlossen die Zelle der drei Gefährten auf.
„Habt ihr über mein Angebot nachgedacht?“, fragte der Richter, als er die Zelle betreten und sich auf dem mitgebrachten Stuhl niedergelassen hatte.
„Alles ist besser, als am Galgen zu baumeln!“, erklärte Terzon.
„Gebt mir euer Pamphlet und lasst uns unterschreiben!“.
Seufzend winkte Maturias seinem Schreiber, der drei beschriebene Pergamentbögen, Feder und Tinte hervorholte.
„Ihr könnt von Glück sagen, daß das Reich gegenwärtig Galeerensklaven braucht!“, erläuterte der Richter, „andernfalls hätte euch der Oberste Richter angesichts eurer Schandtaten keine Gnade eingeräumt!“.

Wortlos nahmen die Männer die Pergamente entgegen und überflogen sie.
„Was steht da?“, fragte Bai. Der Ork war zwar sehr wohl des Lesens mächtig, doch er hoffte, daß Quartez lauschen würde und so den Eindruck bekam, daß es sich bei den drei Gefährten um waschechte, gestandene Piraten handelte.
Maturias nahm Bai das Pergament seufzend aus der Hand, klemmte sich ein Leseglas auf die Nase und begann laut und deutlich vorzulesen:
„Der Oberste Richter des Palastes der Gerechtigkeit erklärt Bai Khordor, Bürger des Reiches Ganiordaes, in Kraft seines durch den erhabenen Damar verliehenen Amtes folgender Verbrechen für schuldig: Schmuggel, Hehlerei, Seeräuberei und üble Piraterie in mindestens zehn Fällen, bei denen mindestens zwanzig ehrbare Seeleute ums Leben kamen. Nachweislicher gemeiner Mord in neun Fällen sowie Widerstand gegen die Verhaftung durch Beamte des Reiches und tätlicher Angriff auf selbige!“.
Maturias deutete auf den unteren Rand des Schriftstücks.
„Hier unten findet ihr Signatur und Siegel des Oberen Richters und daneben müsst ihr unterschreiben! Wenn ihr nicht in der Lage seid, euren Namen zu schreiben, reicht es, wenn ihr Kreuze macht!“.
Der Schreiber drückte Bai einen Federkiel in die Hand und der Ork fand fast Vergnügen daran, auf übertrieben stümperhafte Weise drei schiefe Kreuze auf das Pergament zu kratzen.
Rahne unterschrieb schweigend und mit besorgter Miene das Schriftstück.
„Richter Maturias, dieses Geschreibsel ist unvollständig!“, beschwerte sich Terzon. Der Richter schaute ihn mit fragendem Blick und hochgezogenen Augenbrauen an. „Wir haben mindestens drei Mal so viele Schiffe aufgebracht!“, erklärte Terzon mit verletzter Miene, „Ehre wem Ehre gebührt!“.
„Unterschreibt wenn ihr nicht baumeln wollt!“, fauchte der Richter Terzon zornig an.
Im Hintergrund konnte man Quartez lachen hören.

Zufrieden lauschte Terzon der Belehrung des aufgebrachten Richters.
„Hier geht es nicht darum, eure schändlichen Verbrechen zu lobpreisen! Selbst die Hälfte der hier aufgeführten Anklagepunkte würde für euer Urteil reichen! Unterschreibt jetzt, bevor ich es mir anders überlege! So verzweifelt ist unsere Marine nicht, daß es auf einen Galeerensklaven mehr oder weniger ankommt!“.
Der Richter war sichtlich aufgebracht und schnell unterschrieb Terzon das Geständnis mit den gewohnt schwungvoll ausgeführten Lettern seines Namens.
Seines gegenwärtigen Namens…
Der Schreiber löschte die Unterschriften ab und verstaute die Dokumente in einer ledernen Mappe.
„Nun gut“, sagte Maturias, dem noch immer die Zornesröte im Gesicht stand, „damit sei es besiegelt. Morgen geht ihr an Bord einer Galeere, auf der ihr eure wohlverdiente doch allzu milde Strafe absitzen werdet! Und ich verspreche euch“, er deutete auf Terzon, „daß euch noch Reue überkommen wird!“.
Mit diesen Worten kehrte der Richter auf dem Absatz um und verließ die Zelle mit wehendem Rock.
Nur wenige Augenblicke später befanden sich die drei Männer und Quartez wieder allein im Kerker.

„Was für ein Schwachkopf!“, lachte Quartez.
„Doch wie es aussieht, werden wir morgen gemeinsam an Bord gehen! In einem Punkt hat dieser richterliche Bastard allerdings Recht. Das Dasein als Rudersklave ist kein Zuckerschlecken! Wartet’s nur ab… Ich zumindest werde jetzt eine Mütze Schlaf nehmen. So ein gemütliches Lager werden wir so schnell nicht wieder sehen! Und auch ihr solltet ein wenig Kraft sammeln! Ihr werdet sie nötig haben.“.
Quartez ließ sich mit einem wohligen Seufzen auf seine Pritsche nieder, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.
Wenige Augenblicke später verriet sein gleichmäßiger Atem, daß der Vertraute des Ragnolio eingeschlafen war.

Nachdem einige Zeit vergangen war, winkte Terzon seine beiden Gefährten herbei.
Sie setzten sich zusammen und begannen, sich flüsternd zu unterhalten.
„Borus“, sagte Terzon, „Was hat es mit diesem Namen auf sich, der… erwähnt wurde? Rahne von Bram?“.
Unsicher schaute der junge Thalisier seine Gefährten an. In Terzons Augen sah er reine Neugier. Bai betrachtete ihn mit dem üblichen unergründlichen Blick, der ihn nun jedoch leicht schaudern ließ.
„Eine Verwechslung…“, setzte Rahne an, doch Terzon winkte leise lachend ab.
„Ich habe euch diese Erklärung schon beim letzten Mal nicht abgenommen!“, erklärte er, doch Rahne konnte keinen Vorwurf in der Stimme seines Gefährten hören.
„Wir sollten unangenehme Überraschungen in der Zukunft vermeiden“, knurrte Bai.
„Wir werden aufeinander angewiesen sein!“, gab Terzon zu bedenken.
Die beiden Männer sahen, wie es in Rahne arbeitete und er sorgfältig seine nächsten Worte abwog.
„Seid ihr Rahne von Bram?“, half ihm Terzon auf die Sprünge.
„Ich bin… ich musste, also…“. Rahne geriet ins Stottern.
Dem jungen Thalisier war die Situation sichtbar unangenehm.
„Bitte verzeiht und wertet es nicht als Misstrauen“, sagte Rahne schließlich, „aber es wäre besser, wenn ihr mich auch in Zukunft Borus nennen könntet. Es ist besser so, glaubt mir!“.
Fragend schauten Terzon und Bai ihn an.
„Glaubt mir, ich habe meine Gründe!“, flüsterte Rahne hastig. „Es geht nicht anders. Ich kann nicht darüber reden! Wirklich nicht!“.
Fast flehend schaute er seine Kameraden an.
„Nun gut“, seufzte Terzon nach einem kurzen Seitenblick auf Bai, „das müssen wir akzeptieren. Aber ich bitte euch, Borus, haltet mit dieser Geschichte nicht hinterm Berg, wenn wir sie eines Tages wissen müssen!“.
Erleichtert nickte Rahne. Bais missbilligenden Blick ignorierte er.
„Ich verspreche es!“, sagte er und schaute die Männer mit seinen blauen Augen an.
„Vertraut mir!“.

Ein kurzes Schweigen trat ein, bevor Rahne – mit neu gewonnenem Mut – zu einer eigenen Frage ansetzte.
„Terzon, mich beschäftigt auch etwas, seit wir auf dem Totenacker waren. Darf ich euch eine offene Frage stellen?“.
„Nur zu!“, ermutigte ihn der unfreiwillige Kapitän, „fragt!“.
Rahne schaute sich noch einmal prüfend im Kerker um, bevor er sich so vorbeugte, daß mit großer Sicherheit nur Bai und Terzon ihn verstehen konnten.
„Ihr habt dort eure Haut ganz schwarz verfärbt“, erläuterte der junge Thalisier, „und seitdem grübele ich, wie ihr das wohl vollbracht habt. Beherrscht ihr die Arkanen Künste, oder so?“.
Terzon lächelte, doch Bai bemerkte etwas im Blick des Mannes, daß Unsicherheit verriet.
„Ich will nicht leugnen, daß mir gewisse Kräfte in die Wiege gelegt wurden“, erklärte Terzon, „doch sie haben nichts mit dem zu tun, was Hexer und Magier zu tun vermögen.“.
„Das heisst, ihr könnt euer Aussehen verändern?“, fragte Rahne interessiert.
Terzon zögerte einen Augenblick bevor er antwortete.
„In gewisser Weise schon; ja…“.
Er hatte nun die volle Aufmerksamkeit seiner Gefährten.
„Und könnt ihr euch in alles mögliche verwandeln?“, fragte Rahne, der die Männer in diesem Augenblick an einen kleinen Jungen erinnerte. „Könntet ihr euch beispielsweise in eine Maus verwandeln?“.
Lächelnd schüttelte Terzon den Kopf.
„Würde ich hier noch mit euch sitzen, wenn ich sowas könnte?“, stellte Terzon eine Gegenfrage und Rahne errötete leicht, als er bemerkte, daß seine Frage vorschnell und unüberlegt gewesen war. „Nein, ich kann mich nicht in eine Maus verwandeln!“, erklärte Terzon nun ernster. „Meine Kräfte haben gewisse Grenzen…“.
„Zeigt es mir!“, bat Rahne, „ich würde es gern noch einmal sehen!“.

Auch Bais Gesicht zeigte nun einen Ausdruck von Neugier.
„Nun, wenn ihr wünscht…“, sagte Terzon und hob die Hand.
Erwartungsvoll starrten Rahne und Bai auf Terzons ausgestreckte Hand, doch nichts geschah.
Auch Terzon wirkte verwundert.
„Es geht nicht…“, erklärte er verdutzt. „Normalerweise muss ich es nur wollen, aber jetzt… Seltsam.“.
Der dunkelhaarige Mann wirkte besorgt.
„Es liegt nicht an euch …“, flüsterte Rahne. „Es liegt an der Zelle!“.
Der Thalisier erinnerte sich an den missglückten Versuch, seine Magie zu wirken und an die Worte des Kerkermeisters, als Lefgyr ihn vor seinen Fähigkeiten warnte.
Was für Kräfte hier auch am Werk sein mochten, sie wirkten sich auch auf Terzon geheimnisvolle Fähigkeiten aus, auch wenn er es bestritt, den Arkanen Künsten mächtig zu sein. Rahnes Interesse war dennoch geweckt.
„Woher stammt diese Fähigkeit?“, bohrte er weiter, „habt ihr sie erlernt?“.
„Nein“, antwortete Terzon, „doch ich kenne sie seit meiner Kindheit. Ich weiß so gut wie nichts darüber; auch wenn ich sie mittlerweile beherrsche!“.
„Haben eure Eltern nicht…“, setzte Bai an, doch der Mann schnitt ihm das Wort ab.
„Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen.“, antwortete Terzon schroff.
„Meine Eltern sind mir ebenso unbekannt, wie die Herkunft dieser Kräfte. Und auch wenn es in euren Augen erstrebenswert sein mag, so etwas zu können, so lasst mich euch versichern, daß es in gleichem Maße Bürde und Fluch ist. In meiner Vergangenheit hatte ich schon einige… nun … Probleme deswegen…“.
Terzon machte keine Anstalten, seine Worte näher zu erläutern.
„Das kenne ich nur zu gut!“, sagte Rahne um das aufkommende Schweigen zu überbrücken. Vielleicht würde Terzon seine eigene Situation eines Tages nachvollziehen können…
Bai hingegen betrachtete seine beiden geheimnisvollen Gefährten mit einem Anflug von Skepsis. Er konnte Rahnes naive Faszination nur bedingt teilen; viel mehr keimte in ihm nun die Frage, ob dieser Mann, der sich Terzon nannte, überhaupt menschlich war…
Bai musste sich eingestehen, daß er sich in merkwürdige Gesellschaft begeben hatte.
Bei Hlom und Gaslo hatte er zumindest gewusst, woran er war.
Nun, zumindest bei Hlom…
„Ihr solltet daran denken, daß Wände Ohren haben können!“, ertönte nun eine Stimme von der anderen Seite des Kerkers.

Die drei Männer zuckten unwillkürlich zusammen.
Sie hatten sehr darauf geachtet, möglichst leise zu sprechen.
Wie – wenn überhaupt – hatte der unheimliche Quartez sie belauschen können?
Die Gefährten wechselten verunsicherte Blicke. Hatten sie irgendetwas erwähnt, was ihre Maskerade in Gefahr bringen oder Misstrauen in Quartez wecken könnte?
Mit einem unwohlen Gefühl ließ sich Terzon auf seine Pritsche nieder.
Auch Rahne legte sich hin und dachte über diese Frage nach. Bai hingegen stellte sich in die Mitte der Zelle und begann, seine Muskeln zu lockern.
Ein Blick in die Nachbarzelle zeigte ihm Quartez, der noch immer auf dem Rücken lag und keinen Aufschluss darüber zuließ, ob er wach war oder schlief.
Bai atmete einige Male tief ein und aus, während er die beunruhigenden Gedanken aus seinem Geist verscheuchte und sich dann den kraftvollen, fließenden Bewegungen des Alapesh widmete.

Terzon konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden.
Sein Schädel dröhnte, ohne daß er einen Grund dafür benennen konnte. Vielleicht hatte sein Körper noch mit den Nachwirkungen von Renskis Schlafdroge zu kämpfen. Doch anstatt sich Gedanken über die ungewisse Zukunft und die gefährliche Mission zu machen, die Tefano Makeiros ihnen auferlegt hatte, begann er mit einem Spielchen, mit dem er sich schon seit seiner Kindheit die Zeit vertrieb. Er konzentrierte sich auf Dinge, die sich in seiner Nähe befanden – in diesem Fall auf den widerlichen Eimer, der den Gefangenen als Abort diente – und versuchte sie mit der Kraft seiner Gedanken in Bewegung zu setzen.
Terzon wusste, daß seine Kameraden ihn für verrückt halten würden, wenn er ihnen von dieser Beschäftigung erzählen würde (schon bei früheren Begleitern hatte er darauf verzichtet), doch er konnte sich nie des Gefühls erwehren, daß diese Übung mehr als völliger Quatsch war.
Schon als Kind im heruntergekommenen Waisenhaus von Gvanifay, hatte er geglaubt, daß so etwas möglich sein konnte und je länger er das tat, um so mehr war er davon überzeugt. Terzon hatte das Gefühl, als verberge sich eine Kraft in seinen Gedanken, die die Konzentration zu erwecken vermochte.
Er hatte das unerklärliche Gefühl, daß es nur einen winzigen Ruck bedurfte, um eine Tür in seinem Geist zu öffnen und diese Kraft frei zu setzen. Und er hatte schon oft von Bornesen und Bewohnern noch fernerer Länder gehört, die Kraft ihrer Gedanken unglaubliche Dinge vollbringen konnten.
Warum also nicht auch er? Da! Hatte sich der Eimer nicht einen Millimeter bewegt?
Nein, scheinbar nicht…
Es war ihm nicht unbekannt, daß das Konzentrieren früher oder später dazu führte, daß sein Geist ihm das vorgaukelte, was er sich so sehnsüchtig erhoffte.
Nun, eines Tages würde es ihm viellicht gelingen…

„Mein Kompliment an den Koch!“, sagte Terzon, als man ihm nach einigen Stunden Schlaf weckte und ihm eine Schale des ewig gleichen, wässrigen Haferschleims servierte. Auch Rahne und Bai hockten auf ihren Pritschen und aßen mit wenig Begeisterung die fade Mahlzeit.
„Da, wo ihr nun hinkommt, wird die Verpflegung auch nicht besser sein!“, antwortete der Wächter und ging.
Die Männer hatten aufgegessen und hingen ihren Gedanken nach.
Terzon rieb sich das Kinn und spürte das Kratzen der Bartstoppeln. Ein ungewohntes Gefühl.
Für gewöhnlich reichte ein Gedanke aus, um jeglichen Bartwuchs von seinem Anlitz zu vertreiben. Auch Bai hatte mittlerweile einen dichten, schwarzen Vollbart und selbst auf Rahnes Zügen zeigte sich ein spärlicher, blonder Pflaum.
Wenn er Tefanos Andeutungen richtig verstanden hatte, saßen sie nun schon zehn Tage in diesem Loch. Zehn Tage!
Die Schusswunde war schon fast abgeheilt. Lediglich ein bisschen Schorf und ein gelegentlicher dumpfer Schmerz bei manchen Bewegungen waren geblieben. Doch das Schlimmste war für Terzon, daß man sie wie Tiere hielt.
Die Wachen brachten ihnen auf Nachfrage lediglich brackiges, kaltes Wasser zum Waschen – von Seife hatte man hier scheinbar nie etwas gehört - und ein einfacher Eimer in der Ecke, der nur allzu selten geleert wurde, diente zum Verrichten der Notdurft. Angewidert rümpfte er die Nase.
Es gab nicht mal einen Spiegel, doch den brauchte Terzon auch nicht, um sich vorzustellen, daß er mittlerweile ebenso verwahrlost aussah, wie seine beiden Gefährten. Hätte Tefano sie nicht für sein verschlagenes Komplott erwählt und ihnen so – Glück im Unglück – die Aussicht auf ein Ende dieses entwürdigenden Daseins geschenkt, er würde sich in spätestens einem Monat freiwillig für den Galgen melden.

Terzon vertrieb sich die Zeit mit dem Singen einer melancholischen, skalivernischen Weise und seine volle, klare Stimme brach die Stille in dem Gewölbe, als sich schließlich die Kerkertür öffnete, und ein ganzer Trupp Wachen das Gefängnis betrat.
Erneut wurde die gepanzerte Kiste herein gewuchtet und in Quartez’ Zelle bugsiert.
Sieben Wächter betraten die Zelle der drei Gefährten und legten ihnen Hand- und Fußschellen an, während weitere Wächter mit angelegten Flinten sie nicht aus den Augen ließen.
Klarakni sei gedankt, dachte Terzon und leistete keinerlei Widerstand und während Bais Miene den gewohnten Missmut und Rahne einen Ausdruck unterschwelliger Besorgnis zeigten, machte sich in ihm geradezu ein Hochgefühl breit.
Die Männer sahen, wie Wächter ihren Zellennachbarn mit vorgehaltenen Flinten zwangen, die mysteriöse Kiste zu betreten, während man sie abführte.
Die Wachen eskortierten sie durch die Katakomben des Gefängnisses; vorbei an Zellen, aus denen Jammern, Flehen und Fluchen drang.
Terzon wurde bewusst, daß Klarakni, der Gott des Glücks, ihnen tatsächlich hold war. Für diese Verdammten gab es wahrscheinlich keine Hoffnung.
Er schauderte, als er sich vorstellte, wie es sein musste, tatsächlich eine ganze Strafe in diesen Verliesen abzusetzen. Der Tod erschien gnädig gegen dieses Schicksal…

Die Wächter führten sie über gewundene Treppen nach oben, bis sie sich schließlich in dem geräumigen Tunnel wieder fanden, durch den sie den Palast der Gerechtigkeit betreten hatten. Obwohl auch hier der Geruch von Öllampen, Rauch und ungewaschenen Leibern in der Luft hing, war die Luft hier geradezu erfrischend.
Die Männer spürten einen Anflug von Schwindel, als man sie durch das weit geöffnete Flügeltor schließlich ins Freie zerrte.
Die sengende Sommersonne, die an einem stahlblauen Himmel dem Zenith zuwanderte, ließ ihre Augen brennen und tränen und es dauerte einen Moment, bis sie sich an das Tageslicht gewöhnt hatten.
Kaum konnten ihre Augen das ungewohnte Licht wieder ertragen, wurden sie unsanft ins Innere einer Gefängniskutsche gestoßen.
„Und dieses Mal werden wir euch auf der Stelle erschießen, wenn ihr es wagen solltet, einen erneuten Ausbruchsversuch zu versuchen!“, warnte ein Wächter mit einem Unterton, der keine Zweifel daran ließ, daß er auf diese Worte Taten folgen lassen würde. Kaum hatten sie sich auf eine der harten Holzbänke gesetzt, polterte das Gefährt bereits los.
Es ging nur mäßig voran und durch die gepanzerten Wände der Kutsche waren dumpfes Stimmgewirr und das Rufen der Händler zu hören. Terzon konnte sich bildhaft vorstellen, wie sich die Kutsche durch die Menge der Passanten auf den Straßen und Plätzen quälte.
Für einen kurzen Moment überkam ihn ein Hauch von Selbstmitleid.
Was würde er nicht alles dafür geben, sich nun unter die Menge mischen zu dürfen? Ein guter Tropfen, ein Bad, ein bequemes, sauberes Bett nebst einem guten Essen und einer hübschen, willigen Dirne; das wäre nun ganz nach seinem Geschmack.
Terzon konnte ein resignierendes Seufzen nicht unterdrücken, als er sich an die Wand der Kabine lehnte und den abklingenden Schmerz der frischen Tätowierung zwischen den Schulterblättern spürte.

Als die Kutsche anhielt und die drei Gefangenen unter den wachsamen Augen der Wächter ausstiegen, wehte ihnen frische Seeluft um die Nase.
Nach dem Aufenthalt in dem stickigen, stinkenden Kerker war dies ein wahrer Hochgenuss und sie genossen die klare Luft und den leicht salzigen Geschmack auf den Lippen.
Die Männer befanden sich auf einem Pier, der sich weit ins Hafenbecken erstreckte. In der Mündung des Hafens erhob sich majestätisch die gewaltige Flutburg; der Sitz des Erzherzogs.
Mehrere Schiffe – sowohl leichte Küstensegler, als auch gewaltige, schwere Überseesegler reihten sich an den Seiten des Piers auf.
Ein Meer von Masten und Kranbäumen ragte in den blauen Himmel und Möwen kreisten kreischend über den Schiffen.
Der Pier selbst war von Stadtwachen abgeriegelt worden.
Matrosen hockten in den Takelagen der festgemachten Schiffe und lehnten sich über die Reling, um den Aufmarsch der Wachen und ihrer Gefangenen zu beobachten, doch kein Zivilist war auf dem Pier selbst zu sehen.
Mehrere andere Gefängniskutschen waren zu sehen, aus denen ebenfalls gefesselte Männer in grauer Häftlingskleidung ausstiegen und eine ganze Schar weiterer Gefangener wurde – von grimmigen Soldaten eskortiert – den Pier entlang geführt.
Ziel dieser Prozession war eine prächtige Galeere, die am Ende des Piers lag.
Es war ein beeindruckendes Schiff. Bai schätzte es auf gut achtzig Meter Länge.
Es war mit zwei Galerien von jeweils dreiundzwanzig Rudern auf jeder Seite versehen und drei Masten ragten aus dem Rumpf in die Höhe.
Der Ork schätzte, daß es mindestens zweihundertfünfzig Ruderer benötigte, um diesen Koloss zu manövrieren. Am Bug glänzte ein eisenbeschlagener Rammsporn, der die Form eines Vogelkopfes hatte.
Katapulte und Ballistae waren – neben den Öffnungen für die Batterien der Kanonen, die sich oberhalb der Ruderreihen befanden – als Bewaffnung zu erkennen.
Der Name Glutwind glänzte in goldenen Lettern am Bug des Kriegsschiffs.
Über zwei Planken wurden die Gefangenen im Gänsemarsch aufs Deck des Schiffes geführt. Auch Rahne, Terzon und Bai reihten sich in die Prozession ein, die vom Rasseln der Fußfesseln begleitet wurde.

Die Wächter trieben die Männer an und wenn einer der Gefangenen zu langsam ging oder über seine Fußketten stolperte, wurde er unsanft mit dem Kolben einer Flinte zu mehr Eile angetrieben. Schließlich erreichten auch die drei Gefährten die Planke, die zum Deck hinaufführte. Als sie am Deck angekommen waren, blieb Terzon plötzlich stehen und drehte sich um.
Vor sich konnte er die beeindruckende Kulisse Glazurias sehen, das sich bis zu den Rändern des Talkessels erstreckte und dessen unzählige Türme und Giebel in der Sonne glänzten.
„Ich, Kapitän Terzon, verfluche euch und eure niederträchtige Stadt!“, rief er und seine Worte hallten über den Pier. Wachen und Gefangene starrten ihn gleichermaßen an. „Mögen euch die Schwänze abfaulen und eure hässlichen Weiber euch Fehlgeburten bescheren!“.
Einer der Wächter packte ihn grob am Arm und zog ihn weiter.
„Eines Tages werde ich wiederkehren!“, brüllte Terzon, „und dann werde ich eure verfluchte Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennen!“.
Ein schmerzhafter Schlag eines Flintenkolbens in die Rippen beendete Terzons Hasstirade. Keuchend rang er nach Atem.
„Maul halten!“, brüllte einer der Wächter und versetzte dem Gefangenen einen weiteren Hieb. Bai trat knurrend einen Schritt vor; seine gelben Augen funkelten den Wächter hasserfüllt an.
Rahne – der hinter dem Ork in der Reihe der Gefangenen stand – spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, als ihn ein unerklärlicher Anflug von Angst überrollte. Einige andere Gefangene keuchten vor aufkeimender Furcht und Unruhe kam in die Reihen der Häftlinge.
Der Wächter, der Bai anstarrte, wurde kreidebleich im Gesicht und stolperte einen Schritt zurück; ungeachtet seiner Umgebung schien er nur Augen für den unheimlichen Ork zu haben.
Mit einem Schrei stolperte der Mann von der Planke und stürzte mit einem lauten Platschen ins Hafenbecken. Die rätselhafte Furcht, die die Gefangenen ergriffen hatte, verschwand so schnell, wie sie gekommen war und nun brachen etliche Gefangene, die die Szene beobachtet hatten, in schallendes Gelächter aus.
Wächter stürmten herbei und schlugen brutal mit ihren Flinten auf Bai ein, bis dieser sich geduckt wieder in die Schlange der Rudersklaven einreihte.
„Einreihen, weiter gehen und das Maul halten!“, brüllte die Wache, „sonst werdet ihr die Peitsche spüren, ihr Hurensöhne!“.
Rahne sah, wie andere Wächter ihren triefenden Kameraden aus dem Hafenbecken zogen. Er musterte das breite Kreuz seines orkischen Gefährten und die seltsamen rostroten Flecken auf seiner Haut.
Irgendwas stimmte nicht mit Bai, doch der junge Thalisier konnte seine Empfindung nicht präzisieren.
Es war für Rahne nur allzu offensichtlich, daß sein Gefährte diese Welle der Furcht ausgelöst hatte, die weit über das hinausging, was ein Grollen und ein bedrohlicher Blick hervorrufen konnten.

Auf dem Deck der Glutwind herrschte geschäftiges Treiben. Matrosen waren dabei, das Auslaufen des mächtigen Schlachtschiffs vorzubereiten, während Soldaten, die weinrote Waffenröcke mit dem Wappen des Reiches Ganiordaes – ein Silberner Torbogen, der das Große Portal des Ostens symbolisierte, in dessen Mitte ein silberner Stern als Symbol für die Wunder der Ebenen prangte – trugen und in kleinen Grüppchen auf dem Deck verteilt waren, der Schar der Gefangenen geringschätzige Blicke zuwarfen oder sie gänzlich ignorierten.
Bai bemerkte eine Gruppe von Matrosen, die auf dem Boden vor einem alten, bärtigen Mann knieten, dessen langes, grobes Gewand völlig durchnässt war.
Erst dachte Bai, daß der Mann ebenfalls ein unfreiwilliges Bad im Hafenbecken genommen hatte, doch dann fielen ihm die Muscheln und Stränge von Seetang auf, die in den langen Bart des Alten geflochten waren und er begriff, daß dieser Mann ein Priester der Navir – der alten Göttin des Meeres und der Gezeiten – sein musste.
„… und aus dem Meer der unberechenbaren Mutter seid ihr gekommen und ins Meer werdet ihr gehen, wenn eure Zeit gekommen ist!“, klang die Stimme des Priesters zu ihm herüber. Bai konnte sehen, wie der Mann die gesenkten Häupter der Seeleute bei jeder Silbe mit Wasser aus einem Schlauch benetzte.
„Ihr seid nichtige Kreaturen“, rief er, „ und wenn ihr das Wagnis eingeht, die Wellen ihres tosenden Reiches zu reiten, dann lobpreist ihre Gnade, denn ihr seid nichts als Tropfen in den Weiten des unendlichen Meeres. Seid tapfer und ehrfürchtig angesichts ihrer allmächtigen Göttlichkeit! Nehmt und esst von ihrer Tafel, doch verwehrt euch nicht, wenn sie den salzigen Preis für ihre Gaben fordert!
Seid gesegnet durch ihr Blut und vertraut in ihre Güte und ehrt ihren Reichtum und das Leben ihrer Kreaturen. Und wenn ihr unberechenbarer Zorn euer Schiff zerschmettert und ihr hinabtaucht, in ihr feuchtes Reich, dann hadert nicht eures Schicksals, denn Leben wird gegeben und Leben wird genommen. Gut Wind und Navirs Gnade!".
Mit diesen Worten beendete der alte Navir-Priester seinen Segen und die Matrosen erhoben sich. Bai spürte einen Anflug von Hoffnung, denn Navir war auch seine Schutzgöttin und auch wenn er selbst nicht das heilige Wasser empfangen hatte, so hoffte er doch, daß der Segen der Wogenden Göttin auch ihm zu Gute kommen würde.

Vom Deck wurden die Gefangenen über schmale Stiegen auf die beiden Ruderdecks geführt, die nur von dem Licht, das durch die Ruderöffnungen drang, und kleinen Petroleumlampen erhellt wurden.
Terzon, Bai und Rahne wurden auf das unterste der beiden Decks gebracht.
Hier unten herrschte eine stickige Hitze, nicht ungleich der in dem verhassten Kerker des Palastes der Gerechtigkeit, doch die Seeluft, die durch die Öffnungen drang, machte die Wärme deutlich erträglicher.
Rahne, Terzon und Bai wurden einen langen Steg entlang geführt, der die Backbord-Seite der Ruderbänke von der Steuerbordseite trennte und dann aufgefordert, sich auf eine der Bänke dicht am Bug zu setzen. Terzon musste ganz außen Platz nehmen, während Bai direkt am Mittelgang und Rahne zwischen ihnen saß.
Ihre Fußketten wurden mit dafür vorgesehenen Eisenringen verankert, die in den Boden des Decks eingelassen waren.
Ihre Handschellen schlossen die Wächter an ebensolche Ringe, die mit eisernen Schellen verbunden waren, die die Ruder selbst umgaben und die über das polierte Holz rutschten, wenn sich einer der Männer bewegte.
Wie man dieser Fesselung im Falle eines Schiffsbruches entkommen sollte, war Rahne ein Rätsel, bis ihm der beunruhigende Gedanke kam, daß das Überleben der Rudersklaven in einer solchen Situation überhaupt nicht vorgesehen war.
Das schwere Ruder, das zu dick war, als das selbst der große Bai es mit den Händen umfassen konnte, lag in einer Halterung, doch die drei Männer erahnten schon jetzt, daß es nicht leicht sein würde, den schweren Riemen zu bewegen.
Die Bank selbst war hart und es gab noch nicht mal eine Lehne, um sich anzulehnen, denn dort wo diese hätte sein müssen, hing das Ruder der Bank hinter ihnen.

Nach und nach füllte sich das Ruderdeck und je mehr Männer auf den Bänken Platz nahmen und festgekettet wurden, um so dicker wurde die Luft, die sich nun mit dem Geruch von Schweiß und ungewaschenen Leibern mischte.
Terzons Stimmung sank merklich. Vermutlich hatte Quartez Recht damit, daß sie sich innerhalb kürzester Zeit zurück in den Kerker des Palastes der Gerechtigkeit wünschen würden. Immer wieder schauten die Männer sich um, in der Hoffnung, Quartez zu entdecken, doch von Ragnolios rechter Hand war nichts zu sehen.
Möglicherweise hatte man ihn für das zweite Ruderdeck eingeteilt, falls man ihn überhaupt aus seiner Kiste gelassen hatte.
Es verging mindestens eine Stunde, bis auch die letzte Ruderbank besetzt war und dann kündigte das Poltern schwerer Stiefel auf dem Mittelgang die Ankunft mehrerer Männer an.

„Willkommen an Bord der Glutwind, ihr Ratten!“, ertönte eine laute, donnernde Stimme. Sie gehörte einem kräftigen Gwandalier mittleren Alters, der kurz geschorenes Haar und einen gestutzten und leicht ergrauten Vollbart trug.
Er trug ebenfalls den weinroten Waffenrock der ganeordischen Armee und dazu ein Abzeichen auf der linken Schulter, das ihn als Offizier der Marine auswies.
Hinter ihm stand ein dicker, kahlköpfiger Dhraal mit krebsroter Haut, der weite Hosen und eine lederne Weste über dem nackten Wanst trug.
Speckige Wülste im Nacken und kleine, in den Höhlen versunkene Augen ließen Rahne sofort an die Schweine des Klosters denken, als er den Mann betrachtete. In den Händen hielt der Dhraal eine lange Peitsche, an deren Enden kleine Metallkugeln befestigt waren. Der Mann ließ einen kalten, herausfordernden Blick über die anwesenden Gefangenen gleiten.
Der dritte Mann trug die gleiche Kleidung, war aber wesentlich dünner und nicht ganz so hässlich, wie der Peitschenträger. Vor sich trug er eine große, bauchige Trommel und in seinem Gürtel steckten die dazu gehörigen Schlegel.
„Von heute an bin ich euer Herr!“, brüllte der Offizier, so daß seine Stimme selbst in den hintersten Reihen zu vernehmen war. „Und dieser Mann“ – er deutete auf den Trommler – „ist euer Gott! Wenn er trommelt, rudert ihr! Trommelt er schnell, rudert ihr schnell! Trommelt er langsam, rudert ihr langsam! Habt ihr das verstanden, ihr Ratten?!“.
Die Mehrheit der Gefangenen nickte.
„Jeder, der sich seinem Gott nicht fügt oder der nicht mit dem Herzen bei der Sache ist, wird die Peitsche spüren!“.
Zur Unterstreichung dieser Worte ließ der fette Dhraal seine Peitsche mit einem Knall über die Köpfe der Gefangenen sausen und einige zuckten verschreckt zusammen. Der Offizier quittierte diese Regung mit einem zufriedenen, boshaften Grinsen.
„Ihr habt genug Zeit, euch das Ruderhandwerk raufzuschaffen, bevor wir gegen die Xurakon segeln!“, brüllte der Offizier. „Ihr werdet das Gwandalische Meer seiner ganzen Länge nach durchqueren, bevor wir Viviandis erreichen!“, erklärte er mit donnernder Stimme.
„Dort sammelt sich die Flotte der Allianz und dann geht es über das ganze Bleiche Meer bis zu den Blutigen Inseln! Bis dahin werdet ihr Meister am Ruder sein; vorausgesetzt, ihr haltet bis dahin durch!“.
„Wann zeigt ihr uns unsere Kabinen?“, fragte Terzon mit einem frechen Grinsen.
Angesichts der Provokation starrte der Offizier ihn an.
„Und was ist, wenn ich mal muss?“, erkundigte sich Terzon unbeeindruckt weiter, „schließt ihr mich dann los und führt mich zum Abort?“.
„Halt Dein Maul, Du Made!“, brüllte der Offizier, dem nun die Zornesröte ins Gesicht stieg.
„Dies ist eine Kriegsgaleere und keine Vergnügungsfahrt! Wenn ihr müsst, lasst laufen und vergesst dabei das Rudern nicht, sonst setzt es was!“.
„Ihr erwartet, daß ich mich selbst besudele?“, fragte Terzon angewidert.
Bai merkte, daß die Fassungslosigkeit seines Gefährten nicht gänzlich gespielt war.
„Das ist widerlich!“, rief Terzon, „eine solche Behandlung werde ich nicht hinnehmen! Holt den Kapitän, damit ich mich beschweren kann!“.
Auf einen Wink des Offiziers sauste die Peitsche durch die Luft und klatschte auf Terzons Rücken. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn. Dann folgten ein zweiter Hieb und ein Dritter. Terzon sah Lichter vor seinen Augen tanzen; so durchdringend war der Schmerz. Er spürte, wie warmes Blut über seinen Rücken floss und das zerfetzte Leinenhemd durchtränkte.
„Das werdet ihr mir büßen…“, knurrte er.
„Nein, ihr werdet lernen, zu gehorchen und euer vorlautes Maul zu halten!“, knurrte der Offizier, während der Dhraal ein weiteres Mal die Peitsche fliegen ließ.

Nachdem der Offizier sich davon überzeugt hatte, daß Terzon die Lust auf weitere Widerworte und Provokationen vergangen war, begab er sich mit seinen Begleitern zum Heckteil des Ruderdecks, wo er den armen Teufeln, die dort angekettet waren, die selbe Lektion erteilte.
„Was soll das?“, flüsterte Rahne, als er sich sicher war, daß die drei Männer außer Hörweite waren.
„Warum provoziert ihr diesen Mann?“, flüsterte er dem vom Schmerz benommenen Gefährten ins Ohr. „Jeder Blinde sieht doch, daß dieser Verbrecher Freude daran hat, euch zu schikanieren und euren Willen zu brechen. Warum bereitet ihr ihm diese Genugtuung?“.
„Respekt!“, flüsterte Terzon und zwinkerte. Für einen Augenblick befürchtete Rahne, sein Kamerad habe von den Tagen im Kerker und den Hieben des Peitschers den Verstand verloren.
Doch Terzon zwinkerte ihm zu und schenkte ihm das altbekannte schelmische Grinsen, das allerdings etwas gequält wirkte.
„Ich muss mir den Respekt der anderen Rudermänner verdienen“, flüsterte Terzon.
„Wir müssen sie dazu bewegen, sich sämtlichen Befehlen zu verweigern, falls Ragnolio tatsächlich angreift!“.
Rahne gaffte ihn ratlos an.
„Denkt nach, Rahne!“, flüsterte Terzon. „Wenn die Piraten diesen Koloss von Schlachtschiff in ihre Gewalt bringen wollen, brauchen sie jede Hilfe, die sie kriegen können! Und eine von uns ins Leben gerufene Meuterei zum richtigen Zeitpunkt ist der direkte Weg in Quartez’ Herz!“.
Terzon musste schon sehr von der Nützlichkeit seines Plans überzeugt sein, um dafür Schmerz und Erniedrigung in Kauf zu nehmen, dachte Rahne und er hoffte, daß sein Gefährte Erfolg hatte und Recht behalten würde.

Es verging noch eine weitere halbe Stunde, bis der Offizier und seine Gehilfen erneut auftauchten. Die Männer spürten, daß die Galeere sich zu bewegen begann und Terzon sah durch die Ruderöffnung, daß sich das Kriegsschiff langsam vom Pier abwendete.
„Jetzt könnt ihr zeigen, was ihr könnt und ob ihr hier mehr von Nutzen seid als am Grund des Meeres, ihr Halunken!“, brüllte der Offizier.
Durch die schmale Luke konnte Terzon nun mehrere Langboote mit etlichen Rudern erkennen, die das schwerfällige Schiff vom Pier zogen und mit dem Bug der Hafenmündung zuwendeten.
„Die Lotsen bringen uns in Position zum Auslaufen!“, rief der Offizier, dessen polternde Stimme den drei Gefährten – vor allem Terzon – schon jetzt verhasst war.
„An die Ruder!“, brüllte er, „und eintauchen!“.
Rahne, Terzon und Bai hoben das schwere Ruder aus seiner Halterung, das sich durch sein Gewicht allein in die richtige Position senkte.
Oben an Deck ertönte ein Hornstoß und sogleich ließ der Trommler einen Schlag ertönen.
„Macht euch bereit!“, erklang wieder die Stimme des Offiziers. „Beim nächsten Schlag zieht und wenn ihr durchgezogen habt und der nächste Schlag ertönt, hoch mit dem Ding! Beim dritten Schlag zurück in die Ausgangsposition! Beim Vierten wieder absenken! Und dann alles wieder von vorn! Wer den Takt nicht achtet, spürt die Peitsche! Also, aufgepasst!“.
Ein hallender Trommelschlag erklang.
Die Männer zogen an dem Ruder, bis es sich gegen ihre Brust presste. Ein weiterer Schlag ertönte und sie drückten das Ruder hinab, daß es sich aus dem Wasser hob; gerade rechtzeitig, bevor der nächste Schlag ertönte und sie es von sich schoben. Dann begann die Prozedur erneut.
Der Rumpf knarrte und die Männer auf den Bänken ächzten vor Anstrengung.
Das schwere Schlachtschiff setzte sich in Bewegung.
Mit knallenden Schritten eilte der Offizier den Mittelgang entlang. „Ihr da! Weiter durchziehen, ihr Faulpelze!“, brüllte er einer Ruderbank zu. „Und ihr, ihr Ratten! Höher mit dem Ruder! Wenn es bricht, werf’ ich euch den Haien zum Fraß vor!“.
Wie der Herzschlag eines Riesen hallte das Dröhnen der Trommel durch das Ruderdeck.
Unablässig stampfte der Offizier auf und ab und brüllte die Ruderer an, die ihren Riemen nicht zu seiner Zufriedenheit führten. Gelegentlich erklangen das Fauchen der Peitsche und Schmerzensschreie, wenn ein Rudersklave sich besonders dumm anstellte. Terzon spürte den prüfenden Blick des Offiziers jedes Mal, wenn dieser an seiner Bank vorüber marschierte, doch er und seine Gefährten mühten sich und so hatte der Aufseher keinen Grund für Beschimpfungen oder Strafe.
Schon nach wenigen Schlägen lief den drei Männern der Schweiß über die Stirn und ihre Hände begannen zu schmerzen. Die Luft im Ruderdeck wurde spürbar feuchter.

„Rudert, ihr Maden, rudert!“, erklang immer wieder die Stimme ihres Peinigers.
Sie merkten nun, daß das Schiff Fahrt aufnahm und bald hatten der brüllende Offizier und sein Gehilfe mit der Peitsche Ordnung in die Reihen der Rudersklaven gebracht.
Gleichmäßig tauchten die Ruder ein, wurden durchgezogen und hoben sich wieder aus dem Wasser. Jede dieser Bewegungen erfolgte im Einklang mit einem der Trommelschläge.
„Sehr gut! Weiter so!“, feuerte der Offizier die Gefangenen an.
Terzon konnte ein Teil des Leuchtfeuers an der Hafeneinfahrt erkennen, an dem sich die Galeere zügig vorbei schob. In der Ferne erklang der Salut der Kanonen der Flutburg, die die Galeere einen Augenblick später beantwortete.
Das Krachen des Geschützes über ihnen ließ die Ohren der Gefährten klingeln.
„Gewöhnt euch schon mal dran!“, rief der Offizier, „wenn wir erst Xurakon sichten, wird es noch viel lauter!“.
Der keuchende, schwitzende Rahne glaubte nicht, daß er das je erleben würde, wenn er das verdammte Schiff tatsächlich auf seiner gesamten Fahrt begleiten müsste; er würde wohl innerhalb weniger Tage an Erschöpfung zu Grunde gehen.
Fast eine Stunde ließ der Offizier sie den Takt halten, bis auf dem Oberdeck erneut ein Horn erklang und ihnen eine Pause gegönnt wurde.
Schläuche mit Wasser wurden durch die Bänke gereicht.
Dann begann die Plackerei erneut. Rahne bemerkte schnell, daß ihm die Kräfte schwanden. Zwar war ihm körperliche Arbeit nicht gänzlich unbekannt, doch diese Intensität war ihm fremd. Schon bald schmerzten ihm die Muskeln in Brust, Armen und Schultern, doch er biss die Zähne zusammen.
Die zweite Ruderphase war sogar länger als die Erste und Rahne merkte unfreiwillig, daß die Kraft zum Heranziehen der großen Ruder ihm verloren ging.
Als er schließlich mit den schwitzenden Händen vom Riemen abrutschte und er die Gelegenheit nutzte, um kurz die schmerzenden Arme auszuschütteln, ertönte die Peitsche und fuhr ihm über den Rücken. Rahne schrie vor Schmerz und Schreck auf.
„Hände an die Riemen, du Muttersöhnchen!“, bellte der Offizier und der junge Thalisier griff hastig wieder ans Ruder; voller Furcht vor einem weiteren Peitschenhieb. Bai warf dem Offizier einen grimmigen Blick zu.
„Was glotzt du so, Ork-Bastard?“, fuhr der Offizier ihn an, „willst Du auch die Peitsche schmecken, du Dreckskerl?“.
Zorn wallte in Bai auf, doch er senkte den Blick und gab sich wieder der gleichförmigen Ruderbewegung hin. Der Offizier machte auf dem Absatz kehrt und stampfte davon. Irgendwo hinter ihnen erklangen erneut die Peitsche und das Bellen des Aufsehers. Der Mistkerl hatte ein neues Opfer gefunden.

Quälend langsam zog sich der Tag dahin.
Der Schweiß weichte die Haut ihrer Handflächen auf und bald schon bildeten sich schmerzende Blasen, die brannten, wenn sie aufgingen. Der Offizier ließ sie gnadenlos rudern, nur unterbrochen von kurzen Pausen und viel zu seltenen Schlucken aus dem Wasserschlauch. Die ersten Gefangenen beugten sich dem Druck ihrer Blasen und ließen ihr Wasser laufen. Der Geruch nach Männerschweiß mischte sich bald mit dem beißenden Gestank von Urin. Selbst Bai schmerzten irgendwann die starken Arme und er bewunderte den schmächtigen Rahne, der nach dem Peitschenhieb wacker durchhielt, obwohl ihm die Finger bluteten und er am Ende seiner Kräfte sein musste.
Quartez hatte Recht behalten. Dies hier war viel schlimmer als das Dahinvegetieren in dem fensterlosen Gefängnis.
Bai empfand es als blanken Hohn, daß der Richter behauptet hatte, daß einem nach zwanzig Jahren auf der Galeere die Begnadigung winkte.
Der Ork zweifelte daran, daß jemals irgendjemand so lange an Bord eines solchen Höllenschiffs überlebt hatte.
Irgendwann setzte das Trommeln aus. Terzon konnte durch die Ruderöffnung erkennen, daß die Wellen bereits im Rot der Abendsonne schimmerten.
Soldaten kamen und verteilten hölzerne Schalen, in die sie einen dicken Eintopf mit Kartoffeln und Bohnen füllten, den die Gefangenen hungrig verschlangen.
Im Gegensatz zu der ewig gleichen Hafergrütze im Kerker von Glazuria war die Mahlzeit geradezu ein Festessen.
Kaum hatte er aufgegessen, bettete Rahne seinen ermatteten Leib auf das massive Ruder und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
„Für heute hab’ ich genug von euch Pferdegesichtern!“, brüllte der Offizier, während er über den Laufsteg schritt. Selbst der Krach, den er veranstaltete, konnte den erschöpften Thalisier nicht wieder wecken.
„Aber glaubt ja nicht, daß ich zufrieden war mit eurer Darbietung! Ihr seid ein ganz und gar erbärmlicher Haufen von Ruderern! Selbst Einarmige und Greise rudern besser als ihr! Wenn wir so den Xurakon gegenüber treten würden, könnten wir das Schiff auch selbst versenken!“.
Mit drohenden Blicken schritt er die Reihen ab.
„Aber seid euch sicher, ihr Bastarde und Weibsbilder, daß ich aus euch noch anständige Ruderer machen werde, bevor wir Viviandis anlaufen! Ruht euch aus, auch wenn ihr’s nicht verdient habt! Aber ich muss kotzen, wenn ich eure unfähigen Visagen noch weiter ertragen muss!
Morgen früh ist die Schonzeit vorbei! Dann werdet ihr Rudern oder euch wünschen, eure verhurten Mütter hätten euch niemals zur Welt gebracht!“.

Nachdem der sadistische Offizier und seine Schergen sich entfernt hatten, legte sich Stille über das Ruderdeck. Die Gefangenen waren erschöpft von den Strapazen des Tages und die meisten taten es Rahne gleich und suchten sich eine einigermaßen angenehme Position zum Schlafen.
Terzon hingegen tippte den Mann an, der vor ihm hockte.
„Psst!“, zischte er, als dieser sich verwundert zu ihm herum drehte.
„Wenn wir angegriffen werden, dann rührt keinen Finger; ganz gleich wie sehr der Mistkerl tobt!“, flüsterte er.
„Bist du von Sinnen?“, antwortete der Mann – ein leicht übergewichtiger Gwandalier mit bornesischen Zügen – entsetzt. „Wenn wir nicht rudern und uns trifft ein Geschoss, ist das unser Ende!“.
„Vertraut mir!“, flüsterte Terzon eindringlich, „vertraut mir und gebt meine Worte an euren Nebenmann und die nächste Reihe weiter!“.
Kopfschüttelnd wandte der Gwandalier sich ab, doch wenig später neigte er seinen Kopf dem Nebenmann zu und flüsterte.
Der Nebenmann warf einen kurzen Blick auf Terzon und antwortete dann flüsternd. Terzon lächelte zufrieden und hoffte, daß die Männer sich tatsächlich über seine Anweisung unterhielten und nicht darüber, daß hinter ihnen ein Verrückter saß.

Wenig später kam ein junger Soldat mit einer Flinte, der einen Schemel mitbrachte und darauf Platz nahm.
Auch an anderen Stellen des Mittelgangs postierten sich Soldaten, die vermutlich dazu abgestellt waren, die Rudersklaven während der Nacht zu bewachen.
Terzon war bereits eingeschlafen, doch Bai beobachtete den jungen Soldaten heimlich. Der Mann – ebenfalls Gwandalier – war nicht viel älter als Rahne und stand sicher erst am Anfang seiner Karriere in der ganeordischen Marine.
Kein Wunder, daß man ihn mit einer solch undankbaren Aufgabe bedacht hatte.
Er war ein hässlicher, kleiner Kerl, dessen Haar sich – trotz seines geringen Alters – schon sichtlich lichtete.
Für einen Soldaten war er recht dick; eine anständige Wampe wurde von seinem Waffengürtel nur mühsam in Zaum gehalten.
Als ein zweiter junger Wächter herbei schlich und die beiden Männer zu flüstern begannen, schloss Bai die Augen und stellte sich schlafend, um ihnen zu lauschen.
Vielleicht konnte er so etwas über die Situation auf dem Schiff in Erfahrung bringen.

„Hast Du noch etwas von dem guten Kraut?“, fragte der eine mit gedämpfter Stimme. Der zweite Wächter fummelte in seiner Tasche.
„Aber nur einen Zug!“, flüsterte er mahnend. „Bis Viviandis ist es noch weit und mit dem Vorrat müssen wir haushalten! Außerdem, wenn Du zuviel rauchst und einpennst, binden sich dich an den Mast, bis die Sonne dir das Hirn zerkocht!“.
„Ich weiß!“, drängelte sein Kamerad, „nur einen Zug! Nun gib’ schon!“.
Einen Moment später stieg Bai der süßliche Geruch von Sambish in die Nase.
Diese harmlose – in ihrer beruhigenden und erheiternden Wirkung leicht an Alkohol erinnernde – Droge, war in Ganiordaes und den anderen Reichen des Südens weit verbreitet.
Bai hatte selbst schon gelegentlich davon geraucht, doch seine bisherige Tätigkeit hatte stets einen klaren Kopf erfordert und er war kein Freund der Trägheit, die das Kraut mit sich brachte.
Die beiden Männer begannen sich flüsternd und gelegentlich kichernd zu unterhalten; vorwiegend über Kameraden und die Eskapaden, die sie sich vor ihrer Abfahrt in den Vergnügungskneipen Glazurias geleistet hatten.
Bai konnte dem Gespräch keinerlei wertvolle Informationen entnehmen; höchstens die, daß der Soldat, der sich anfangs neben ihn gesetzt hatte, Lorush hieß.
Bai musste sich mehr und mehr anstrengen um wach zu bleiben und den Soldaten zu lauschen, doch schließlich musste sein Körper Ozuul Tribut zollen und er sank in einen tiefen Schlaf.

Der nächste Morgen begann mit einer kräftigen Suppe für die ermatteten Gefangenen. Dann tauchten der Offizier und seine Schergen auf und die Schinderei begann von neuem.
Der sadistische Offizier hatte es sich in den Kopf gesetzt, seinen Rudersklaven die grundlegenden Manöver einer Kriegsgaleere einzubläuen und so ließ er sie fortwährend pullen; mal schnell und mal langsam und zwischen den Seiten abwechselnd, damit sie Kursänderungen erlernten.
Schon bald waren die Männer wieder erschöpft und die Peitsche des kahlköpfigen Dhraal sauste mit schöner Regelmäßigkeit auf die Rücken jener, die das Tempo nicht halten oder den Befehlen des Offiziers nicht folgen konnten.
Rahne wurde zunehmend schweigsamer.
Von den drei Gefährten war er der, den die Strapazen am meisten mitnahmen.
Selbst in der kürzesten Pause fielen dem erschöpften Thalisier die Augen zu und seine Kameraden mussten ihn dann schleunigst wecken, bevor der Offizier Rahnes Zustand bemerkte und ihn mit der Peitsche strafen ließ.

Auch dieser Tag zog sich schier endlos hin, bis die Glutwind nach Einbruch der Dämmerung vor Anker ging.
Nachdem der Offizier gegangen war und die Männer ein einfaches aber kräftiges Abendessen zu sich genommen hatten, begann Terzon erneut, die anderen Gefangenen für seine Pläne einzunehmen.
Die Männer, die vor ihnen saßen, wirkten nun nicht mehr ganz so widerwillig, wie noch am Abend zuvor, denn auch sie hatten am Tag unter der Peitsche und den gnadenlosen Anforderungen des Offiziers und seines Peitschers gelitten.
Dennoch schienen sie noch immer die Konsequenzen des Handelns zu fürchten, das Terzon ihnen nahe legte, doch sie gaben seine Worte dieses Mal bereitwillig an die Männer vor ihnen weiter.
Terzon war zufrieden und zuversichtlich, daß nur noch wenige Tage unter der Knute des Offiziers von Nöten waren, um sie gänzlich auf seine Seite zu ziehen.
Auch Bai unterstützte Terzons Bemühungen, doch der Hobgoblin, der sein Banknachbar auf der anderen Seite des Mittelgangs war, zeigte sich wenig zugänglich für seinen Vorschlag.
„Du bist doch wahnsinnig, Ork!“, zischte der Hobgoblin – ein kräftiger, junger Mann mit schwarzem Schnurrbart und Zöpfen und bunten Tätowierungen auf den kräftigen Unterarmen – ihm zu.
„Wer auch immer verrückt genug ist, eine Kriegsgaleere der ganeordischen Marine anzugreifen, wird kaum Gnade für uns Rudersklaven haben. Ich hoffe lieber darauf, hier in einem günstigen Moment zu entfliehen, als wegen eures bescheuerten Plans mit dem Kasten unterzugehen!“.
Bai sah sich außer Stande, die Argumente des Hobgoblins zu entkräften, ohne den hoffentlich bevorstehenden Angriff Ragnolios zu verraten und so beließ er es dabei; jedoch nicht ohne dem sturen Hobgoblin einen missbilligenden Blick zuzuwerfen.

Wenig später tauchte erneut Lorush, der junge Soldat auf, und bezog seinen Wachposten. Es dauerte nicht lange und die Müdigkeit übermannte die meisten der Ruderer. Bai gelang es jedoch, wach zu bleiben.
Der andere Wächter tauchte wieder auf und die Szenerie des vorigen Abends wiederholte sich.
Die Soldaten teilten sich ein Pfeifchen und begannen wieder kichernd ein geflüstertes Gespräch zu führen, das Bai – sich abermals schlafend stellend – mühelos verfolgen konnte.
Es drehte sich größtenteils um uninteressante Nichtigkeiten und die Schikanen, die die jungen Männer durch ihre Vorgesetzten zu erdulden hatten.
Schließlich kam das Gespräch auf die Xurakon, jenes geheimnisvolle Seeräubervolk aus dem fernen Osten, gegen das die Glutwind in den Krieg ziehen sollte.
Bai wusste nur wenig über dieses Volk, um das sich Schauermärchen und Legenden rankten, über das jedoch nur wenig bekannt war, was als Fakten gelten konnte.
In der Vergangenheit – lang vor Bais Geburt – waren die Xurakon häufig über die Küsten Angraenors hergefallen und hatten Angst und Schrecken verbreitet.
Sie waren bekannt für ihre überlegenen, schnellen Kaperschiffe und die tödliche Magie, die sie gegen ihre Feinde ins Feld führten.
Die Nationen am Gwandalischen Meer hatten unter ihren Angriffen zu leiden und selbst die Küsten von Ganiordaes blieben nicht verschont.
Die Xurakon führten lange, blutige Kriege gegen das mächtige Viviandis und gegen Tandiak, doch in den letzten Jahrzehnten war es still um sie geworden.
Für die meisten Bewohner Angraenors waren die Xurakon nicht mehr als Schreckgestalten aus früheren Zeiten und nur gelegentlich berichteten Überseefahrer aus Nova Bakairis und Mandrill von diesem Volk, das früher als Geißel der Meere galt.
Für Lorush und seinen Kameraden schienen die Xurakon allerdings eine äußerst reale Bedrohung.

„Was für ein Schlamassel, daß sich der Damar und seine Verbündeten ausgerechnet während meiner Dienstzeit dazu entschließen, gegen die Xurakon zu segeln!“, flüsterte Lorush frustriert.
„Ganz meine Meinung!“, sagte sein Kamerad, „wir werden vom Pech verfolgt!“.
In der Tat, dachte Bai und stellte sich das Pech vor, das in Gestalt von Ragnolio und der Abschaum über die Soldaten hereinbrechen würde.
Fast tat der junge Lorush ihm leid.
Abgesehen von seiner Tätigkeit als Soldat des Reiches schien er ein anständiger Kerl zu sein.
Ein lautes Husten aus dem hinteren Teil des Ruderdecks ließ Lorushs Kameraden aufspringen und sich hastig verabschieden.
Der Soldat stolperte davon, um seinen verwaisten Posten wieder einzunehmen, während Lorush sich seufzend auf seine Flinte stützte und Gedanken nachzuhängen schien.

„Eine schlimme Sache, dieser Krieg gegen die Xurakon, hmm?“, flüsterte Bai ihm schließlich zu. Lorush zuckte vor Schreck zusammen und starrte den Ork an.
„Seid still und schlaft!“, zischte er zurück, doch es gelang ihm nicht, seine Worte mit Autorität zu füllen.
Bai lächelte.
„Ich werde euer heimliches Rauchen nicht verraten!“, sagte er und Lorush wirkte nun leicht beunruhigt, „doch sagt mir, was es mit diesem Krieg auf sich hat! Ich möchte schließlich wissen, wofür ich die Knochen hinhalte!“.
„Das kann ich verstehen, Ork“, sagte Lorush zögerlich und beugte sich zu ihm hinab.
„Doch es ist mir verboten, mit Gefangenen zu sprechen. Tut mir leid!“.
Bai ließ sich von der halbherzig vorgetragenen Abfuhr nicht beirren.
„Was wisst ihr über die Xurakon, Lorush? Wenn man den Gerüchten Glauben schenken mag, ist es doch ein Himmelfahrtskommando, sie in ihrer Heimat zu überfallen, oder?“.
„Das ist es in der Tat!“, stieß Lorush hervor. „Die Xurakon sind Teufel! Im wahrsten Sinne des Wortes! Jeder von ihnen ist ein Magier und ihre Schiffe sind so schnell, daß sie übers Wasser fliegen! Wind und Wetter kann ihnen nichts anhaben und jeder, der ihnen lebend in die Hände fällt, wird erst vergewaltigt und dann aufgefressen!“.
Bai zog eine Augenbraue hoch.
Die Worte des Soldaten schienen auf den gleichen Gerüchten zu basieren, die auch er schon gehört hatte.
„Und warum dann dieser Krieg?“, fragte er weiter; froh, daß der junge Soldat seine Vorbehalte gegen ein Gespräch so schnell vergessen hatte.
Lorush zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nur, daß sich der Damar mit den Herren von Viviandis und anderen Freien Städten verbündet hat, um eine Armada auszuheben, die die Blutigen Inseln – das geheimnisvolle Heimatreich der Xurakon – überfallen soll.“, berichtete der Soldat.
„So viel wie ich weiß, bringen Händler aus dem fernen Süden immer wieder Gerüchte, daß die Xurakon einen neuen Herrscher haben, der eine noch nie da gewesene Flotte ausheben lässt, um Angraenor zu erobern! Ganz Angraenor wollen die erobern, das muss man sich mal vorstellen!“.
Lorush schüttelte fassungslos den Kopf.
„Und die Allianz des Damars und der freien Städte will dem zuvor kommen?“, fragte Bai. Der Soldat nickte.
„Es gibt die Hoffnung, die Flotte zu zerstören, bevor sie seetüchtig ist und die Xurakon so von ihrem Vorhaben abzubringen. So oder so werden uns Schlachten bevorstehen…“. Lorush wirkte niedergeschlagen.
„Fürchtet ihr euch?“, fragte Bai.
„Natürlich nicht!“, antwortete Lorush aufgebracht und erhob sich.
Sonderlich glaubwürdig wirkte sein Aufbegehren jedoch nicht, fand Bai.
„Schlaft jetzt!“, befahl er, „ich darf überhaupt nicht mit euch reden!“.
Mit diesen Worten schnappte sich der junge Soldat seinen Schemel und marschierte ein Stück den Gang hinab, wo er sich wieder niederließ; Bai offensichtlich ignorierend.
Der Soldat war nun zu weit weg, um sich flüsternd verständigen zu können und so beließ es der Ork dabei. Mit einem Lächeln betrachtete er den Schlüsselbund, der an Lorushs Gürtel baumelte. Vielleicht würde sich auch eine andere Möglichkeit ergeben, aus dieser misslichen Lage zu entkommen…

Auch der folgende Tag brachte nichts als Strapazen.
Unerbittlich drillte der Offizier die Rudersklaven und die Gefährten bemerkten zufrieden, daß andere Gefangene leise Flüche murmelten, wenn der Peitscher seine sadistischen Neigungen an einem der Männer ausließ.
Die Gefangenen – Rahne, Terzon und Bai eingeschlossen – hassten diesen Mann mittlerweile mit Inbrunst; fast mehr noch als seinen brutalen Vorgesetzten.
Die Männer waren mittlerweile ein erbärmlicher Anblick.
Die Kleider der meisten waren von den Peitschenhieben zerfetzt und mit getrocknetem Blut befleckt. Ihre Hosen stanken vor Dreck, weil sie ihre natürlichen Bedürfnisse an Ort und Stelle verrichten mussten, ohne sich säubern zu können.
Täglich kamen Matrosen, die die Bänke mitsamt den Ruderern mit Meerwasser abspritzten, doch das linderte Dreck und Gestank nur mäßig.
Der Offizier, seine Schergen und die Soldaten waren dazu übergegangen, sich dicke Minzpaste unter die Nasen zu reiben, um den Geruch der Gefangenen ertragen zu können. Einige der Gefangenen hatten bereits Fieber bekommen und hockten blass und schwitzend an den Rudern. Jene, die von der Erschöpfung übermannt wurden und das Bewusstsein verloren, wurden davon getragen und durch andere Gefangene ersetzt. Scheinbar gab es noch irgendwo an Bord des Schiffes ein Gefängnis, wo Männer gehalten wurden, die in solchen Fällen einzuspringen hatten.
Die Hände der Ruderer waren durch die stetige Beanspruchung mittlerweile von dicken Schwielen und entzündeten Blasen übersäht und schmerzten bei jedem Handgriff.
Das stetige, nervtötende Trommeln verfolgte sie bis in den Schlaf und selbst in den spärlichen Ruhezeiten glaubten die Gefährten, den unerbittlichen Takt des Trommlers hören zu können.

Am Mittag dieses Tages geschah dann etwas, das den Hass der Rudersklaven auf ihre Peiniger noch mehrte. Ein Gwandalier, der mehrere Reihen hinter den Gefährten saß und in den vergangenen Tagen schon mehrfach die Peitsche zu spüren bekam, weil er – ebenso wie Terzon – im Umgang mit dem Offizier ein allzu lockeres Mundwerk pflegte, traf eine folgenschwere Entscheidung.
Als der Offizier und seine Männer eine Pause verkündeten und sich anschickten, daß Ruderdeck zu verlassen, zerrte der Mann plötzlich an dem Ruder und stieß es dem vorbeigehenden Offizier zwischen die Beine. Der Mann stolperte und stürzte polternd auf den Mittelgang.
„Das geschieht dir ganz Recht, du Bastard!“, schrie der Gwandalier und einige der Mitgefangenen lachten laut.
Der fette Dhraal griff sofort zu seiner Peitsche und schlug sie dem aufbegehrenden Gefangenen ins Gesicht. Blut spritzte. Die Eisenkugeln an den Enden der Peitschenstränge rissen schreckliche Wunden und der Mann schrie voller Pein auf.
„Bestraf’ ihn!“, brüllte der Offizier, der sich nun mit vor Zorn gerötetem Gesicht aufrappelte. „Bestraf’ ihn für diese Dreistigkeit und zeig’ dem Gesindel, was mit Leuten passiert, die so etwas wagen!“.
Mit einem irren Blick, in dem Genugtuung und eine Spur von Lust lagen, ließ der Peitscher sein Mordinstrument auf den wehrlosen Gwandalier niedersausen.
Wieder und wieder schlug er auf den Mann ein, dem die Haut förmlich zerfetzt wurde.
Mit Schrecken und unfähig einzugreifen, beobachteten die anderen Ruderer die Bestrafung. Das widerwärtige Klatschen der Peitsche und die gellenden Schreie des Gefangenen hallten über das Ruderdeck.
„Beim Schläfer…“, murmelte Rahne fassungslos, der das Geschehen mit einem Ausdruck von Entsetzen beobachtete.
Schlag auf Schlag sauste auf den Mann nieder und die Schreie wandelten sich in Wimmern, bis sie schließlich gänzlich verstummten.
Als der fette Dhraal schließlich von seinem Opfer abließ, troff die Peitsche vor Blut.
Blutüberströmt hing der Mann, der durch die unzähligen Hiebe regelrecht gehäutet war, regungslos über dem Ruder. Es war nur allzu offensichtlich, daß er tot war.
„Das ist es, was euch blüht, wenn ihr aufbegehrt, ihr Ratten!“, brüllte der Offizier und zeigte auf den Leichnam des Gwandaliers.
„Prägt euch diesen Anblick gut ein und überlegt es euch gut, bevor ihr die Hand gegen mich und meine Männer erhebt!“.
Mit diesen Worten stampfte der Offizier davon, gefolgt von dem Trommler und dem zufrieden lächelnden Peitscher, dessen Wangen von Ekstase gerötet waren.
Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer, als sie mit einander flüsterten.
„Der Bastard wird noch bezahlen…“, flüsterte Bai.

Der Leichnam des Gwandaliers hing noch eine ganze Zeit an seinem Ruder, bevor Soldaten kamen, die seine Ketten lösten und ihn davon trugen.
Wenig später wurde ein neuer Gefangener gebracht und an das Ruder gekettet, das noch von dem Blut seines Vorgängers besudelt war.
Mit vor Schrecken geweiteten Augen betrachtete der Neuling die Blutpfütze zu seinen Füßen.
Der Offizier kehrte schließlich zurück und ließ weiterrudern.
Er bemerkte nicht die hasserfüllten Blicke, die sich auf ihn richteten, wenn er Ruderern den Rücken zukehrte. Der Peitscher schien die eisige Atmosphäre jedoch spüren zu können, die sich über das Ruderdeck gelegt hatte, denn die Maßregelungen fielen spärlicher aus, als sonst.
Möglicherweise hatte er sich mit der Bestrafung des Gwandaliers genug Befriedigung verschafft und sein sadistisches Verlangen vorerst gestillt.
Nach einiger Zeit anstrengenden Ruderns ertönte auf dem Oberdeck ein Hornstoß. „Die Götter meinen’s gut mit euch, ihr Maden!“, verkündete der Offizier daraufhin.
„Die Flaute scheint vorüber. Wir haben genug Wind zum Segeln! Genießt also eure Pause, verdient habt ihr sie nicht!“.

Terzon nutzte die Pause, um die Gefangenen in seiner Hörweite von seinem Plan zu überzeugen und stieß nun auf offene Ohren.
Mehrere Rudersklaven versprachen ihm flüsternd, seinem Rat zu folgen, wenn ein Angriff geschah.
Nur der Hobgoblin, der Bais Nachbar war, machte keinen Hehl daraus, daß er die Idee für Irrsinn und die Gefährten für Idioten und Verrückte hielt.
Doch kurze Zeit später tauchten Soldaten auf, die Wachposten bezogen und lautere Gespräche über mehrere Ruderbänke hinweg verstummten sofort.
Rahne, Bai und Terzon flüsterten mit einander und die Soldaten schienen – anders als der Offizier – gegen solche Unterhaltungen nichts einzuwenden zu haben und ließen sie gewähren.
„Ich bin am Ende meiner Kräfte“, erklärte Rahne. „Wie lange sollen wir das noch durchhalten? Was, wenn Ragnolio sich entschließt, Quartez erst kurz vor Viviandis zu befreien? Es sind noch Wochen bis dahin! Das hallte ich nicht aus!“.
Der junge Thalisier konnte nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken.
„Und was ist, wenn Tefano sich geirrt hat und Ragnolio keinerlei Anstalten macht, den Schwarzen zu befreien?“.
Terzon und Bai gaben nicht zu, daß die letzte Frage ihnen auch zuweilen durch den Kopf ging.
„Habt Vertrauen, Borus!“, sagte Terzon. Aus Gewohnheit wollte er seinem Kameraden auf die Schulter klopfen, doch die Handschellen verhinderten dies.
„Und selbst wenn dieser Magier den Schwanz einzieht oder Tefano sich geirrt hat; wir kommen hier raus!“, fuhr er unbeirrt fort. „Klarakni ist uns wohl gesonnen!“.
Bai war sich nicht sicher, wer ihnen mehr von Nutzen sein würde: Klarakni – Gott des Glücks – oder der blauäugige Lorush mit seinem Schlüssel…

Auch an diesem Abend tauchte der junge Soldat wieder auf und genoss mit seinem Kameraden einige heimliche Züge Rauschkraut, nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Gefangenen in der Nähe schliefen.
Bai beobachtete ihn durch leicht geöffnete Lider und merkte zufrieden, daß der Blick des Jungen ihn immer wieder musterte, während er mit seinem Gefährten flüsterte.
Nachdem der andere Soldat sich wieder auf seinen Posten zurückgezogen hatte, hob Bai den Kopf und begrüßte Lorush flüsternd.
Erneut erschreckte sich der junge Soldat, wirkte jedoch gefasster.
„Was willst Du, Ork?“, fragte er.
„Dieser Peitscher“, sagte Bai, „wie heißt der?“.
Lorush wirkte verunsichert und zögerte, doch dann antwortete er.
„Ilm“, sagte er, „sein Name ist Ilm. Warum fragt ihr?“.
„Dieser Ilm hat heute einen der Gefangenen getötet.“, erklärte Bai ernst.
Lorush nickte und schaute den Ork misstrauisch an. „Ich habe gehört, der Kerl habe den Offizier angegriffen.“, sagte er. „Es war Notwehr!“.
Bai schüttelte den Kopf. Dieser Junge war wirklich naiv.
„Wie sollte er dem Offizier schon gefährlich werden?“, fragte der Ork und ruckte an seinen Handschellen. „Wir sind hier festgekettet und können uns kaum bewegen! Er hat ihn getötet; abgeschlachtet wie ein Schwein fürs Torfest! Und es hat ihm Vergnügen bereitet!“.
Ein Anflug von Bedauern huschte über Lorushs Gesicht, doch dann setzte er eine ernstere Miene auf.
„Ihr seid Verbrecher!“, sagte Lorush, „Diebe, Piraten oder Schlimmeres! Wir dürfen kein Mitleid mit euch haben. Das habt ihr nicht verdient!“.
Bai schaute den Jungen mit großen Augen an.
„Lorush, natürlich sind wir Verbrecher, aber keine Ungeheuer!“, erklärte er. „Ich bin kein… Teufel. Ich bin ein Mann, der in seinem Leben ein paar falsche Entscheidungen getroffen hat. Versteht ihr das?“.
Lorush rutschte auf seinem Schemel herum. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm.
„Wie auch immer“, sagte er schroff, „jetzt sitzt ihr hier und ich darf eigentlich gar nicht mit euch sprechen!“.
Es entstand ein kurzes Schweigen, während dem sich die ungleichen Männer anschauten.
„Nun ja“, sagte Lorush schließlich, „ihr tut mir schon leid. Ihr seid nett… für einen Piraten“.
Bai musste lächeln. „Wollt ihr wirklich in den Krieg ziehen, Lorush?“, fragte er.
„Ich weiß, daß ihr Angst habt.“.
Lorush schluckte. „Ich bin wirklich nicht scharf darauf, die Klinge mit den Xurakon zu kreuzen, das könnt ihr mir glauben“, räumte er ein, „aber es ist meine Pflicht. Meine Dienstzeit ist noch nicht vorbei. Ich hab’ noch ein paar Monate vor mir, bevor ich abmustern darf. Mir bleibt keine Wahl!“.
„Ihr könntet von Bord gehen!“, schlug Bai vor. „Zum Beispiel in Viviandis! Heimlich, daß es niemand merkt…“. Und uns mitnehmen, dachte er.
„Von Bord gehen?“, fragte Lorush entsetzt, „Desertieren?“.
Bai nickte. „Ihr seid jung, Lorush, warum euer Leben für etwas wegwerfen, womit ihr nichts zu tun habt? Was scheren euch die Xurakon?“.
„Das geht nicht, Ork“, entgegnete Lorush energisch, „wenn sie mich dabei erwischen, lande ich da, wo ihr jetzt seid! Bei Deserteuren ist das Seegericht gnadenlos!“.
„Wie ihr meint, Lorush“, sagte Bai und schaute den Soldaten mit durchdringendem Blick an.
„Doch falls ihr eure Meinung ändert, dann lasst es mich wissen! Ich könnte euch helfen, Lorush, wenn…“.
Der Soldat fiel ihm ins Wort. „Das geht nicht!“, rief er und zuckte angesichts der Lautstärke seines Ausrufs zusammen.
Nervös schaute er sich um. „Das geht auf keinen Fall!“, wiederholte er flüsternd. „Schlaft jetzt, Ork, wenn mich wer erwischt, wie ich mit euch rede, muss ich für drei Tage in den Ausguck!“.

Der Soldat nahm sich seinen Schemel und setzte sich wieder in einiger Entfernung von Bai hin. Der Ork beugte sich über das Ruder und bettete seinen Kopf auf die Unterarme. Er konnte sehen, daß es im Kopf des jungen Soldaten arbeitete.
Immer wieder schaute er zu Bai hinüber und kaute gedankenverloren auf seiner Unterlippe.
Wir werden hier rauskommen, dachte Bai, mit eurer Hilfe, Ragnolio, oder ohne!

Am folgenden Tag schien die Flaute erneut hereingebrochen sein, denn der Offizier und seine Männer tauchten auf und trieben die Gefangenen unerbittlich zum Rudern an.
Rahne hätte zu gern gewusst, wie viele Seemeilen sie in den vergangenen Tagen schon zurückgelegt hatten, doch er wagte es nicht, dem brutalen Offizier eine Frage zu stellen. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Rudern und versuchte die Schmerzen in seinen Muskeln und Gelenken zu verdrängen, was ihm gelang.
Die Furcht vor der Peitsche und davor, das Schicksal des armen Gwandaliers teilen zu müssen, mobilisierten Energien in dem jungen Thalisier, die er nicht erahnt hatte.
Auch Terzon litt an seinem schmerzenden Leib, doch im Gegensatz zu Rahne hatte er eine andere Methode, damit umzugehen. Während er ruderte, starrte er auf den Rücken seines Vordermannes und auf dessen Zopf, der bis zu den Schulterblättern hing und bei jeder Bewegung hin und her baumelte.
Terzon konzentrierte sich – wie so oft, wenn ihm langweilig war – und versuchte, das Ende des Zopfes kraft seiner Gedanken zu bewegen.
Eine alberne Übung, räumte Terzon sich ein, aber immer noch besser, als seine Aufmerksamkeit seinen schmerzenden Muskeln zu widmen oder – noch schlimmer – den Zweifeln an Tefanos Prophezeiung, daß Ragnolio das Schiff überfallen würde.
Je länger er darüber nachdachte, um so absurder erschien ihm der Gedanke, daß jemand ein voll besetztes Schlachtschiff überfallen würde, um einen einzelnen Mann zu retten. Nein, da beschäftigte er sich lieber mit dem wackelnden Zopfende und befreite seinen Geist von allen störenden Gedanken.

Das ging den ganzen Tag so und Terzon vertiefte sich immer mehr in seine Konzentration. Das Hämmern der Trommel war ihm dabei sogar hilfreich.
Irgendwann war er so tief in Gedanken versunken, daß Rahne ihm in die Rippen stoßen musste, damit er merkte, daß Pause gemacht wurde.
Bai, der versucht hatte, das Ruder in die Halterung zu legen, schenkte ihm einen irritierten, fragenden Blick. Der Ork dachte zweifellos, er habe den Verstand verloren.
Mit seinem einstudierten Lächeln konnte er Bais Besorgnis jedoch zerstreuen und er aß schweigend das Mahl, das die Soldaten zum Mittag reichten.
Nachmittags kam wieder Wind auf und es wurde nur gelegentlich zu Kurskorrekturen gerudert. Dennoch konzentrierte sich Terzon, denn er hatte das untrügliche Gefühl, daß der Grad seiner Konzentrationsfähigkeit eine neue Qualität erreicht hatte.
Vielleicht verlor er tatsächlich den Verstand, aber er hatte das Gefühl, als sei die Tür in seinem Geist kurz davor, sich zu öffnen.
Dann, am späten Nachmittag, als der Offizier sie gnadenlos rudern ließ und das Ächzen der Männer das Deck erfüllte, geschah es.
Terzon hatte zuvor das Gefühl gehabt, tiefer und tiefer in seine Gedanken zu sinken, um den Schmerzen des Leibes zu entgehen, doch er hatte das Gefühl, als würde er durch das Versinken die imaginäre Tür nicht öffnen, sondern blockieren; so als würde die Kraft seiner Gedanken dagegen drücken, anstatt sie aufzustoßen.
Und so zog er seine Gedanken hervor und sich selbst aus seiner Trance.
Mehr und mehr kehrte er in die Gegenwart zurück und er spürte sich wieder; die schmerzenden Muskeln, die harte Bank unter dem Hintern und die offenen Blasen an den Händen.
All das bei voller Konzentration. Und dann zog er weiter…
Die imaginäre Tür in seinen Gedanken öffnete sich und er spürte Wärme, Energie und Kraft durch seinen Geist strömen und wie von Geisterhand hob sich der Zopf seines Vordermanns. Er erschrak und der Zopf fiel wieder hinunter und baumelte vor sich hin. Erstaunt schaute er zu seinen Kameraden, doch die starrten irgendwo anders hin, während sie verbissen ruderten.
„Rudern, du Bastard!“, ertönte es und Ilms Peitsche knallte über seine Schultern.
Terzon biss die Zähne zusammen und ruderte. Als das Brennen seiner Schultern etwas nachgelassen hatte, schaute er erneut auf den Zopf und zog wieder die imaginäre Tür auf und wieder spürte er die Kraft durch seinen Geist strömen und der Zopf bewegte sich erneut in die Höhe; ganz so, wie er es wollte.
Terzon schloss die Tür und der Zopf fiel und nur ein Gedanke war nötig, sie wieder zu öffnen und den Zopf in die Höhe schweben zu lassen.
Unfassbar, dachte Terzon.
Erstaunen und Freude strömten ihm durch den Leib.
Wie war das möglich? Hatte er wirklich jene Energie in sich gefunden, die die Mystiker von Bornesh und den fernen Reichen nutzten, um ihre Wunder zu vollbringen? Er probierte seine neu entdeckte Kraft an den Handschellen und zog in Gedanken an ihnen und ohne Mühe neigte und erhob sich die Kette ganz nach seinem Wunsch. Ergriffen von diesem Erlebnis sprach er ein stummes Gebet zu Klarakni – seinem Schutzpatron – und griff mit neuem Optimismus ins Ruder.

Der Rest des Tages verging ereignislos.
An diesem Abend tauchte Lorush nicht auf und ein anderer Soldat nahm dessen Platz ein; ein älterer, abweisend wirkender Kerl, der sofort mit dem Knüppel drohte, wenn er Gefangene dabei ertappte, wie sie mit einander flüsterten.
Bai wusste sofort, daß dieser Mann ihm kein Gehör schenken würde und so gab er sich dem Schlaf hin; still hoffend, daß Lorush wieder auftauchen würde.
Terzons Laune hatte sich nach der unglaublichen Entdeckung merklich verbessert.
Er konnte es noch immer nicht fassen, daß seine alberne, kindische Übung – ein Produkt reiner Langeweile – nun solche Ergebnisse hervorbrachte!
Er war optimistisch, daß sie nun tatsächlich aus dieser Ruderhölle entkommen konnten; selbst wenn Tefanos Vorhersage nicht eintreten sollte. Es musste nur ein geeigneter Moment eintreten, um seine Kräfte auf eine Weise einsetzen zu können, die ihnen die Freiheit zu schenken vermochte. Terzon hatte noch keinen blassen Schimmer, wie so eine Möglichkeit aussehen mochte, doch er war zuversichtlich, daß sich etwas ergeben würde, bevor die Glutwind Viviandis erreichte.

Rahne hingegen wurde immer schweigsamer und Terzon und Bai begannen sich um den jungen Thalisier zu sorgen.
Zwar schien er sich mittlerweile an das kräftezehrende Rudern gewöhnt zu haben und Ilms Peitsche traf ihn nun nur noch selten, doch er wurde immer verschlossener.
Bai fürchtete, daß der Mann sich aufzugeben begann und die Hoffnung verlor, der Gefangenschaft zu entkommen.
Immer wieder flüsterten Terzon und der Ork ihm aufmunternde Worte zu und versuchten, ihm Hoffnung zu machen, doch auch wenn Rahne für die Aufmunterung durch die Kameraden dankbar war, so schien er an ihren Worten mehr und mehr zu zweifeln.
Terzon und Bai konnten nicht mehr tun, als darauf zu hoffen, daß der Junge durchhielt, bis das unweigerliche Ende dieses Martyriums eintrat.

Die folgenden zwei Tage waren eine eintönige, anstrengende Zeit, in der sich wenig ereignete. Der Offizier malträtierte sie mit anstrengenden Manövern und verlangte ihnen alles ab, was sie zu geben hatten.
„Diese Anstrengungen sind nur zu eurem Besten, ihr Hunde!“, brüllte er, „nur wenn ihr stark seid und gut rudert, können wir den Schlachtschiffen der Xurakon entkommen! Dann werde ich es sein, dem ihr euer Leben verdankt; also rudert, ihr Faulpelze!“.
Ilm, der Peitscher, wütete wie gewohnt unter den Gefangenen und es kam nicht selten vor, daß er erschöpfte Rudersklaven bis zur Bewusstlosigkeit prügelte und sie fortgeschleppt werden mussten.
Vor allem in Bai wuchs und wuchs der Hass auf diesen Mann.
Terzon hingegen spielte die Brutalität des Peitschers in die Karten.
„Früher oder später wird er wieder einen totschlagen!“, flüsterte er den Mitgefangenen zu, wenn er versuchte, sie für seine Pläne zu gewinnen und er hatte Erfolg damit.
Mittlerweile waren es über ein Dutzend Gefangene, die schworen, seinem Plan zu folgen, wenn eine Gefechtssituation eintrat.
Der mürrische Hobgoblin, der neben Bai saß, gehörte jedoch nicht zu diesen Männern. Der tätowierte, kräftige Rudersklave kommentierte Terzons Argumente meist mit höhnischen Worten und versprach allen, die in einer solchen Situation auf Terzons Anweisungen hören würden, den sicheren Untergang.
Viele der Rudersklaven waren verunsichert durch die Widerworte dieses Mannes und Bai warf ihm immer wieder zornige Blicke zu, die der Hobgoblin jedoch meist ignorierte. Er schien sich darauf zu verlassen, daß Bai – so wütend er auch sein mochte – auf der anderen Seite des Mittelgangs angekettet war und ihm nicht gefährlich werden konnte.

Es war am Abend des siebten Tages auf See, als Lorush zurückkehrte.
An diesem Abend war nicht nur Bai wach, der – wie jeden Abend – die Rückkehr des jungen Soldaten erhofft hatte, sondern auch Terzon, der von einer merkwürdigen Unruhe erfüllt war.
Durch das Ruderloch war zu erkennen, daß draußen dicker Nebel aufgezogen war.
Rahne schlief. Wie immer war der junge Thalisier nach dem Abendessen erschöpft eingeschlafen. Bai hingegen begrüßte den jungen Soldaten mit flüsternden Worten.
„Sei gegrüßt, Lorush“, zischte er, „ich befürchtete schon, man hätte unsere Gespräche bemerkt und ihr wäret dafür bestraft worden.“.
Der Soldat schenkte dem Ork ein Lächeln und Bai war zufrieden, daß Lorush sich scheinbar über das Wiedersehen freute.
„Sorgt euch nicht, Ork“, sagte der junge Mann. „Es ist nur so, daß man uns selten mehrere Nächte in Folge hier unten zumutet, wegen… nun… wegen dem Geruch.“.
Lorush schien die Bemerkung unangenehm zu sein und Bai schaute kurz an sich hinab. Er saß nun seit sieben Tagen in dieser stickigen Enge im eigenen Dreck. Seine Nase hatte sich längst daran gewöhnt.
Für jemanden, der regelmäßig die frische Seeluft an Deck genießen konnte, musste das hier unten die Hölle sein.
„Verzeiht“, sagte Lorush sogleich, „ich wollte euch nicht zu nahe treten…“.
„Schon gut“, antwortete Bai nachsichtig.
Sein Verhältnis zu dem jungen Soldaten entwickelte sich ganz vorzüglich.
„Was mich viel mehr interessiert“, wechselte Bai das Thema, „ist, ob ihr euch unser letztes Gespräch noch einmal habt durch den Kopf gehen lassen.“.
Lorush machte eine ernste Miene; Bai konnte deutlich erkennen, daß er seine nächsten Worte vorsichtig abwog.
Auch Terzon, der an der Außenwand lehnte und mit fast geschlossenen Lidern vorgab zu schlafen, beobachtete den Soldaten interessiert.
Wie es schien, war es Bai gelungen, mit dem Jungen so etwas wie Freundschaft zu schließen, während alle anderen geschlafen hatten.
Dieser Ork war ganz und gar nicht dumm…
„Ihr habt zwar Recht damit, daß ich den Krieg fürchte“, sagte Lorush, „doch genauso fürchte ich, daß man mich erwischt, wenn ich heimlich von Bord gehe. Versteht ihr?“.
„Wir könnten euch helf…“, sagte Bai, doch Lorush unterbrach ihn und er konnte den Satz nicht zu Ende führen.
„Ich habe eine junge Braut“, erklärte Lorush, „und ich will ihr ein gutes Leben bieten können. Ich bin auf den Sold und die Prämie angewiesen, die man mir zahlt, wenn meine Zeit bei der Marine in ein paar Monaten vorbei ist. Meine Familie ist arm und ich habe kein Erbe zu erwarten und von dem Gold, das man mir zahlen wird, könnte ich ein Stück Land kaufen und ein Haus bauen und wir könnten ein einfaches aber glückliches Leben führen.“.
„Was nützen euch und eurer Braut Gold, wenn ihr auf dem Grund des Bleichen Meeres verrottet?“, fragte Bai provokant.
Lorush wirkte nachdenklich und besorgt, doch dann winkte er ab.
„Ich werde jeden Tag zu Klarakni und Navir beten“, sagte er, „damit sie die Glutwind verschonen und mir Glück schenken! Ich habe die Götter stets geachtet und war stets ehrlich und bußfertig. Sie werden Gnade mit mir haben.“.
„Nun, wie ihr meint“, sagte Bai und eine Spur von Resignation fand ihren Weg in seine Stimme, „aber die Wege der Götter sind unergründlich, Lorush. Ihr würdet sie nicht verärgern, wenn ihr einen sicheren Weg wählt, als euer Überleben von göttlichem Beistand abhängig zu machen. Schließlich sagtet ihr selbst, daß die Flotte der Allianz vermutlich kaum eine Chance gegen die Xurakon haben wird.“.

Erneut wirkte Lorush verunsichert.
Furchen legten sich auf seine Stirn, als er nachdachte und in Bai wuchs die Hoffnung, den wankelmütigen Soldaten doch noch davon überzeugen zu können, gemeinsam zu fliehen.
„Ich brauche erstmal ein Pfeifchen“, flüsterte Lorush, „dann wird es mir leichter fallen, meine Gedanken zu ordnen.“.
Auch dies wertete der Ork als Vertrauensbeweis. Lorush würde sicherlich in Teufels Küche kommen, wenn Bai seine Beobachtungen dem Offizier anvertrauen würde.
Möglicherweise würde man ihm aber auch kein Wort glauben und ihn Ilms Peitsche schmecken lassen.
Als Terzon sah, wie der junge Soldat sich zur Seite beugte, um Pfeife und Kraut aus seiner Gürteltasche zu nesteln, konnte er sehen, daß Lorush einen Ring mit mehreren Schlüsseln daran am Gürtel hängen hatte.
Genauer gesagt, er hatte ihn über das Heft seines Dolches gehängt.
Terzon konzentrierte sich auf das Schlüsselbund und versuchte, seine neu gewonnenen Kräfte zu wecken.
Ein Schauer der Aufregung überkam ihn, als die Schlüssel sich langsam zu bewegen begannen und sich langsam erhoben.
Als Bai sah, wie sich die Schlüssel wie von Geisterhand bewegten, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen.
Doch Lorush hatte gefunden, was er suchte und richtete sich wieder auf.
Sein Bauch drückte gegen den Gürtel und behinderte so jede weitere Bewegung des Schlüsselbundes. Terzon war enttäuscht, als er sich der Grenzen seiner neu erwachten Kräfte bewusst wurde. Scheinbar konnten selbst geringste Behinderungen die Bewegungen, die seine geistigen Kräfte hervorriefen, verhindern.
Als Lorush, der von dem merkwürdigen Geschehen nichts mitbekommen hatte, seine Pfeife mit Rauschkraut stopfte und einen Holzspan an der Flamme der Petroleumlampe entzündete, schaute der Ork sich um.
Was ging hier vor sich? Verlor er den Verstand?
Doch dann sah er Terzon, der sich schlafend stellte, ihm aber kurz zuzwinkerte.
Bai war sprachlos.
Was hatte dieser geheimnisvolle Mann noch für Tricks auf Lager?
Doch dann schüttelte der Ork die Verwirrung ab, denn die Absicht seines Gefährten wurde ihm nun klar.
Lorush nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und atmete dann genussvoll aus.
Er entspannte sich sichtlich und ein glasiger Schimmer legte sich über seinen Blick.
„Das hab’ ich gebraucht!“, flüsterte er und nahm einen zweiten Zug.
Bais Gedanken arbeiteten. Er musste unbedingt einen Weg finden, Terzon einen zweiten Versuch zu ermöglichen, des Schlüsselbundes habhaft zu werden.
Würden sie diese Schlüssel bekommen, könnte sich die gesamte Gruppe der Rudersklaven befreien! Vielleicht könnten sie sogar die Gewalt über das Schiff an sich reißen und Quartez selbst befreien! Das würde Ragnolio, wenn er denn kam, ganz bestimmt beeindrucken! Dann kam Bai eine Idee…
„Lorush!“, flüsterte er dem Soldaten leise zu, der gerade gänzlich abwesend wirkte.
„Könntet ihr mir nicht auch einen Zug aus der Pfeife geben?“, fragte er zögerlich.
„Mir tut alles weh und ich fürchte mich vor dem Seekrieg und mache mir Sorgen! Ein Zug von eurem Pfeifchen könnte mir, zumindest für eine kurze Weile, ein wenig Linderung verschaffen!“.
Lorush schaute Bai mit glasigen Augen an. Es schien ihm zu widerstreben, dem Wunsch des Orks nachzukommen, doch gleichzeitig schien er auch Mitleid zu empfinden.
„Na gut“, sagte er schließlich. „Aber nur ein Mal und ihr müsst mir versprechen, es niemandem zu sagen!“.
„Das verspreche ich euch hoch und heilig!“, sagte Bai; bemüht, seine Aufregung zu verbergen.
Lorush nickte und wendete sich seiner Gürteltasche zu, so daß er sich erneut zur Seite beugen musste und so das Gürtelheft und den daran hängenden Schlüssel vom Gewicht seines Bauches befreite.
Schnell warf Bai seinem Kameraden einen Blick zu und er sah, wie Terzons Stirn sich runzelte. Die Konzentration ließ die Adern an seiner Schläfe hervortreten.
Mit offenem Mund beobachtete Bai, wie sich das Schlüsselbund langsam vom Heft des Dolchs löste und durch die Luft zu Terzon schwebte. Die Schlüssel beendeten ihr Schweben direkt in Terzons Fingern; gerade in dem Moment, als Lorush sich wieder aufrichtete und Pfeife und Kraut in den Händen hielt.
Als Lorush nun begann, das Kraut in den Kopf der Pfeife zu stopfen, wagte Bai einen kurzen Seitenblick zu seinem Kameraden und sah erleichtert, daß das Schlüsselbund nicht mehr zu sehen war. Was Bai nicht sah, war daß Terzons Hände und Füße sich abnorm verlängerten und er nun ohne Mühen aus den Hand- und Fußschellen schlüpfen konnte.
Er knuffte den schlafenden Rahne sanft mit dem Ellenbogen in die Seite und schob ihm das Schlüsselbund in die Hände.
Der schlaftrunkene Rahne war sofort hellwach, als er begriff, was geschah.
„Einen Moment noch“, sagte Lorush, als er fertig gestopft hatte, und schickte sich gerade an, den Holzspan zu entzünden, als ein dumpfes Krachen das Schiff erschütterte.

Mit einem überraschten Schrei ließ Lorush die Pfeife fallen und griff nach seiner Flinte.
Das ganze Schiff wankte hin und her und die schlafenden Ruderer schreckten hoch.
„Was war das?“, brüllte ein Mann irgendwo hinter den Gefährten.
Ein beunruhigtes Stimmengewirr erhob sich.
Vom Oberdeck war Rufen und Schreien zu hören.
Lorush stand kreidebleich auf dem Mittelgang; unschlüssig was er tun sollte.
Ein zweites, lauteres Krachen ertönte irgendwo über ihren Köpfen. Splittern von Holz war zu hören und dieses Mal war das Wanken so heftig, daß Lorush von den Füßen gerissen wurde. Polternd stürzte er auf den Mittelgang. Die Flinte fiel ihm aus der Hand und schlitterte direkt dem tätowierten Hobgoblin in den Schoß, der neben Bai auf der anderen Seite des Laufstegs saß.
„Alarm!“, hörte man einen dumpfen Ruf vom Oberdeck, „an die Geschütze! Alle Mann auf Gefechtsposition!“.
„Raus hier!“, rief Terzon und sprang auf.
„Nein!“, rief Lorush, als er sah, wie sich der Gefangene erhob.
Ein Klirren war zu hören, als auch Rahnes Handschellen zu Boden fielen und er sich anschickte, den neben ihm sitzenden Bai zu befreien.
Lorush rappelte sich auf und griff zu dem Kurzschwert, das an seinem Gürtel hing, doch als er die Klinge aus der Scheide zog, krachte ein Schuss.
Das Geschoss aus der Flinte, die der Hobgoblin in den gefesselten Händen hielt, grub sich Lorush in den Bauch und wie ein gefällter Baum stürzte der Soldat zu Boden.

Rahne öffnete eilig die Fesseln des Ork, der entsetzt auf den bewusstlosen Lorush starrte, auf dessen Waffenrock sich ein tiefroter Fleck ausbreitete.
Abermals krachte es und das Schlachtschiff wankte.
Terzon hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, als er auf den Mittelsteg sprang und das Kurzschwert des Wächters aufhob. Bai warf dem Hobgoblin das Schlüsselbund herüber und sprang ebenfalls auf den Laufsteg.
„Befreit euch und reicht die Schlüssel weiter!“, rief Terzon um den aufkeimenden Tumult zu übertönen.
„Ihr da, Hände hoch!“, erklang eine Stimme und als Bai herum wirbelte, sah er einige Meter entfernt einen weiteren Wächter – Lorushs Pfeifenkamerad -, der eine Militärflinte auf ihn anlegte. Der Ork machte einen gewagten Satz auf den Soldaten zu, doch dieser schoss. Krachend ertönte der Schuss und Bai spürte den Luftzug, als die Kugel dicht an seinem Schädel vorbei sauste.
Dann hatte der Ork den Wächter erreicht und schlug ihm die Faust direkt ins Gesicht. Es knirschte, als Nase und Jochbein des Mannes brachen und dieser, rückwärts stolpernd, zu Boden ging.
Gefangene, die neben dem gestürzten Soldaten hockten, zerrten den bewusstlosen Mann zu sich in die Ruderbank.
Einer legte ihm die Kette der Handschellen um den Hals und strangulierte den Bewusstlosen, während ein anderer sich das Schlüsselbund griff, das auch dieser Wächter am Gürtel trug.
Mittlerweile waren gellende Schreie, Poltern und Waffenklirren vom oberen Deck zu hören. Terzon eilte auf die Treppe zu, die zum Ruderdeck über ihnen führte, als zwei Wächter die Treppe hinabpolterten. Einer schoss sofort und es war nur seinen hervorragenden Reflexen zu verdanken, daß Terzon ausweichen konnte.
Die Kugel schlug in den Schädel eines Rudersklaven, der augenblicklich tot zusammenbrach. Terzon schwang das Kurzschwert und schlug es dem Wächter mit der Flinte in die Seite. Blut spritze und der Mann schrie.
Der Hobgoblin sprang an Terzon vorbei und stieß dem zweiten Wächter brüllend den Kolben seiner Militärflinte in die Rippen.

Mehr und mehr Gefangene befreiten sich nun und stürmten den Mittelgang entlang, während Bai versuchte, in dem Gewimmel die Flinte mit Munition vom Gürtel des erdrosselten Wächters zu laden. Manche der befreiten Sklaven schwangen ihre Handschellen wie Flegel über ihre Köpfe. Rahne, der sich mit einem Dolch bewaffnet hatte, gesellte sich zu Bai.
Der Ork konnte dem jungen Thalisier ansehen, daß ihm die Situation nicht behagte.
Terzon wich dem Gegenangriff des verletzten Wächters aus und trieb ihm die Spitze seines Kurzschwertes direkt in den Bauch, so daß es am Rücken wieder hervortrat. Ein Schwall Blut ergoss sich über die Lippen des Soldaten, der tot zusammenbrach.
Weitere Schüsse ertönten, als zwei weitere Wächter in Begleitung des Offiziers die Treppe hinab stürmten.
Zwei der befreiten Sklaven gingen tödlich getroffen zu Boden.
„Zurück auf eure Bänke, ihr Hunde!“, brüllte er, als seine Begleiter ihre Kurzschwerter zogen, doch die wütende Menge war beim Anblick ihres Peinigers außer sich.
Sie ergriffen die beiden Soldaten, die wild auf die Ruderer einschlugen, der wütenden Übermacht jedoch nicht gewachsen waren.
Der Offizier stand auf der Treppe und ließ sein Schwert in die Menge der Angreifer sausen. Der Zorn auf seinen Zügen wich immer mehr einem Ausdruck von Angst.
„Greift euch das Schwein!“, brüllte ein Ruderer, bevor das Schwert des Offiziers ihm den Schädel zertrümmerte. Dann krachte ein Schuss aus Bais Flinte und der Offizier, an der Schulter getroffen, taumelte und stürzte in die wütende Menge zu seinen Füßen. Voller Hass fielen die Männer über den verhassten Offizier her, der sie in den vergangenen Tagen so gequält hatte. Wie von Sinnen schlugen, traten und hackten sie auf den schreienden Soldaten ein, bis nur noch eine blutige Masse aus Fleisch und Knochen übrig blieb.

Rahne, Terzon und Bai stürzten – gefolgt von etlichen Galeerensklaven – die Treppe zum oberen Ruderdeck hinauf, wo sie sich weiteren Soldaten gegenüber sahen, die die Treppe vom Oberdeck hinab stürmten.
Der Kampflärm vom Deck war nun deutlicher zu hören. Schwerterklirren, das Krachen von Schüssen und das Geschrei Verwundeter drangen zu ihnen hinab.
Terzon führte das Kurzschwert in einem Schwung und grub es in die Hüfte eines Angreifers, der brüllend zu Boden ging, während das Blut aus der Wunde spritzte. Bai schlug mit dem Kolben des Gewehres auf einen der Soldaten ein, bevor er die Waffe zur Seite warf und mit bloßen Fäusten weiter kämpfte.
Rahne befreite mit dem Schlüssel einen der Rudersklaven und rief ihm zu, er solle seine Kameraden befreien. Der Mann folgte umgehend der Anweisung des jungen Thalisiers und Rahne sprang wieder zu seinen Gefährten.
Bais Fäuste erwiesen sich als tödliche Waffen.
Unter seinen Hieben und Handkantenschlägen brachen Knochen, doch der Ork war auch schon von den Schwerthieben der Gegner gezeichnet.
„Lasst uns Quartez suchen!“, rief er seinen Gefährten zu, nachdem er einen der Soldaten zu Boden geschickt hatte und nach Atem rang.
Terzon eilte den Laufsteg des Decks in Richtung des Bugs, während die noch angeketteten Sklaven brüllten, daß man sie befreien solle.
Fast ganz am Ende der Reihen der Ruderer erkannte Terzon im Zwielicht einer kleinen Lampe, die hin und her schwang, den schwarzhäutigen Schädel von Ragnolios rechter Hand.

Er war genauso gefesselt wie die anderen Sklaven, doch zusätzlich hatte man ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen verbunden. Mit einem Lächeln auf den Lippen, aber ansonsten völlig entspannt saß der unheimliche Pirat auf seiner Bank und lauschte dem Tumult.
Bai riss die Binde von den Augen des Mannes und schickte sich an, mit einem der Schlüssel die Handschellen zu öffnen.
Blinzelnd schaute Quartez zu ihm auf.
„Sieh an, der hässliche Ork!“, lachte er, „hab’ ich nicht versprochen, daß ein Geständnis der erste Schritt zur Freiheit ist?“.
„Haltet still!“, zischte Bai ihn an, doch der Mann lachte nur.
Auch das obere Ruderdeck war nun von Kampfeslärm erfüllt.
Als Quartez schließlich aufsprang, warf Terzon ihm das Kurzschwert eines erschlagenen Soldaten zu. „Aufs Deck!“, brüllte der Pirat und seiner dröhnenden Stimme war förmlich anzuhören, daß er es gewohnt war, Befehle zu geben.

Die Gefährten folgten Quartez und drängelten sich an den Rudersklaven vorbei, die auf den Mittelgang strömten. Viele halfen, ihre Leidensgenossen zu befreien, während andere die erschlagenen Soldaten nach Waffen durchsuchten oder sich brüllend in den Kampf stürzten.
Der Aufstieg zum Deck war heiß umkämpft. Mittlerweile drängten die Soldaten nicht mehr auf das Ruderdeck, sondern wichen zurück und versuchten verbissen zu verhindern, daß die Gefangenen an Deck gelangten.
Mit Stangen und Spießen versuchten die Soldaten, die drängenden Gefangenen zurück zu treiben, während sie sich anschickten, die Luke zu schließen.
„Sie verrammeln die Falltür!“, brüllte der Hobgoblin, der an vorderster Front kämpfte und dessen Klinge blutverschmiert war. Quartez machte einen Satz in den schattigen Bereich hinter der umkämpften Treppe und verschwand plötzlich.

Die Gefährten waren verblüfft, doch das Schreien der anderen Ruderer lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Falltür. Den Soldaten war es gelungen, die Luke trotz des Andrangs der Gefangenen zu schließen und den Geräuschen nach zu urteilen, wurde sie verbarrikadiert. Zwei kräftige Ruderer griffen sich einen Riemen, den sie von seinem Ruderblatt befreit hatten, und versuchten, diesen als Rammbock einzusetzen. Wieder und wieder stießen sie ihn schräg nach oben gegen die verschlossene Falltür, doch die Klappe rührte sich nicht.
„Verdammt!“, knurrte Terzon, doch da ertönten plötzlich Schreie von jenseits der Falltür, gefolgt von einem dumpfen Poltern. Ein Schleifen war zu hören und beim nächsten Stoß mit dem provisorischen Rammbock ließ sich die Falltür aufstoßen.
Im Halbdunkel des Raumes über der Luke war nur das breite Grinsen von Quartez zu sehen. Ein Schauer lief Rahne über den Rücken, doch er folgte Terzon und Bai, die die Treppe nach oben erklommen.

In dem kleinen Raum, von dem ein Gang zu einigen Türen und einer weiteren Treppe, die vermutlich in den Laderaum führte, abging, lagen die Leichen zweier Soldaten. Zwei Kisten, die die Wächter vermutlich zum Verbarrikadieren der Falltür benutzt hatten, waren zur Seite geschoben worden.
Der Raum wurde nur von dem Licht erleuchtet, das vom Ruderdeck hinauf schien und der schwarzhäutige Pirat war kaum zu erkennen. Nur seine Zähne und das Weiß seiner Augen leuchteten in der Finsternis.
Die Klinge von Quartez‘ Kurzschwert war blutig.
Lächelnd reichte er Terzon die Hand, als dieser in den Raum kletterte.
„Wohl an denn, Kapitän Terzon“, sagte Quartez und so wie er den Titel aussprach, hörte es sich an, als wolle er Terzon verhöhnen, „wie es sich anhört, heizen meine Männer den Bastarden der Glutwind gehörig ein!“.
Hinter den Gefährten strömten nun weitere befreite Sklaven in den Raum.
Jene, die einer Waffe habhaft werden konnten, sammelten sich vor der Tür, die auf das Deck führte. Der tätowierte Hobgoblin schickte sich gerade an, die wütenden Männer hinaus zu führen, als das Krachen eines Schuss ertönte und die Tür aufflog.

Ein toter Soldat, den eine Kugel direkt in die Brust getroffen hatte, stürzte rückwärts die kleine Stiege hinab. Ihm folgte mit einem flinken Satz eine große, schlanke Frau mit einer wilden Lockenmähne, die in der einen Hand eine rauchende Pistole und in der anderen ein gezahntes Krummschwert führte. Sie rempelte den überraschten Hobgoblin zur Seite und riss das Schwert in die Luft. Kurz bevor es hinunter sausen und den Schädel des völlig überrumpelten Hobgoblins spalten konnte, brüllte Quartez: „Nein, Sabetha, nicht!“.

Die Frau – eine wilde, gwandalische Schönheit mit üppigen Formen und blutroten, vollen Lippen – hielt umgehend in der Bewegung inne. Mit einem Satz brachte sich der erschrockene Hobgoblin, der dem Tod ins Auge geschaut hatte, in Sicherheit.
Bai bezweifelte, daß er dem brutalen Hieb der Frau hätte entgehen können.
„Quartez!“, rief die Gwandalierin und sprang auf den schwarzhäutigen Piraten zu.
Quartez umarmte sie und gab ihr einen wilden, fast schon obszönen Kuss.
Die Gefährten betrachteten Sabetha neugierig.
Bai schätzte, daß sie sich schon ihrem vierzigsten Lebensjahr näherte, doch dies hatte keinen Einfluss auf ihre Schönheit. Trotz ihrer weiblichen Rundungen war sie schlank.
Ihre Haut war braungebrannt und sie trug mehrere silberne Ohrringe.
Sabethas breites Lächeln entblößte einen goldenen Schneidezahn in einem ansonsten makellosen Gebiss.
Bekleidet war sie mit einer schwarzen Lederhose, Stulpenstiefeln, einer schwarzen Lederweste, die mit Prägungen verschlungener Muster verziert war und einer engen, weißen Bluse mit gerüschten Ärmeln, die kaum ihre üppige Oberweite in Zaum zu halten vermochte. An einem Finger schimmerte ein silberner Rubinring.
„Schön dich in einem Stück wiederzusehen, du wilde Hure!“, lachte Quartez, „diese verkommene Welt wäre nicht mehr die selbe ohne dich!“.
Sabetha lachte und gab ihm einen kameradschaftlichen Stoß, bevor sie sich den befreiten Gefangenen zuwandte.
„Na los, ihr Faulpelze!“, sagte sie mit einem herrischen Tonfall, „meine Kameraden können jede Hilfe gebrauchen, wenn eure Befreiung nicht in einem Fiasko enden soll!“. Sofort stürmten die Männer – allen voran der Hobgoblin, der Sabetha einen grimmigen Blick zuwarf – durch die Tür aufs Deck hinaus.

Quartez, Sabetha und auch Rahne folgten ihnen.
Als auch Bai ihnen nachsetzen wollte, hielt Terzon ihn fest.
„Jetzt ist die Gelegenheit, uns nach unseren Sachen umzusehen!“, flüsterte er, „ich hoffe nur, daß Tefano Wort gehalten hat! Was für eine Schmach, einer solchen Schönheit in diesem Aufzug unter die Augen treten zu müssen! Für ein sauberes Seidenhemd würde ich meine Großmutter verkaufen!“.
Bai nickte zustimmend und die Männer bewegten sich zu der Treppe, die in den Laderaum führte.
Der Laderaum, der sich noch unter den Ruderdecks befand, war gefüllt mit Kisten und Säcken, die zum größten Teil Proviant für die Besatzung enthielt.
Nirgendwo war etwas von den Habseligkeiten der Gefährten zu sehen.
Schließlich entdeckte Bai eine Tür, die mit einem stabilen Vorhängeschloss gesichert war.
„Verdammt!“, sagte Terzon und machte ein betrübtes Gesicht, „normalerweise wäre dieses Schloss eine Kleinigkeit für mich, aber mit bloßen Händen kann ich nichts ausrichten.“. Bai erinnerte sich, wie Terzon die Tür des Hauses geöffnet hatte, in dem sie den Herrenmenschen begegnet waren.
„Aber hier wird’s irgendwo Werkzeug geben“, sagte Terzon und wollte sich gerade abwenden, als der Ork ihn am Arm festhielt. „Dazu haben wir jetzt keine Zeit!“, sagte Bai, richtete die Flinte auf das Schloss und schoss.
Mit einem Krachen zersprang das Schloss in seine Einzelteile und Terzon riss die Tür auf.
„Bei den Göttern!“, flüsterte er, „Klarakni meint es gut mit uns! Wäre der Schuss daneben gegangen, wäre uns das ganze Schiff um die Ohren geflogen!“.
Bai stieß einen leisen Pfiff aus, als er die Kammer betrat und sich etlichen Regalen gegenüber sah, die mit Flintenmunition, Schusswaffen und Pulverfässern gefüllt waren. Doch auch dort war von den Sachen der drei Männer nichts zu sehen.
„Besser als nichts!“, brummte Terzon und griff sich einen Sack mit Werkzeugen zum Säubern von Waffen, den er zügig ausleerte. „Los, Bai, pack’ Pistolen und Munition ein! Das werden wir brauchen, falls die ganze Angelegenheit hier nicht so verläuft, wie wir es uns vorgestellt haben.“.

Hastig füllten die Männer den Beutel, schoben sich Pistolen in den Bund ihrer verdreckten Hosen und schulterten doppelläufige Militärflinten.
Als Terzon und Bai schwer bepackt aus der Munitionskammer traten, sahen sie sich plötzlich zwei Männern gegenüber, deren Nahen sie während des hektischen Einpackens gar nicht gehört hatten.
„Sieh’ an, wen haben wir denn hier?“, sagte einer der Männer; ein wahrer Hüne mit bornesischen Zügen, größer und kräftiger als Bai, dessen schmutzig grüne Haut, große Zähne und eine flache, breite Nase ihn als Halbork auswies.
„Scheinbar Schiffsratten!“, antwortete sein Gefährte; ein stämmiger Dhraal mittleren Alters mit einem buschigen, schwarzen Vollbart und langem, zu dicken Zöpfen verfilztem Haar, „riechen tun sie zumindest so.“.
„Kaum von der Kette gelassen, schon wieder am Plündern!“, sagte der Halbork grinsend. Er trug eine schwere, gespickte Keule am Gürtel, weite rote Hosen und ein Kopftuch in der gleichen Farbe. Sein muskulöser Oberkörper war nackt.
Sein Gefährte, der einen speckigen, schwarzen Dreieckshut und eine zerschlissene Teerjacke und Kniebundhosen trug, die früher einmal einem gwandalischen Adeligen gehört haben mochten, hob seine doppelläufige Flinte und richtete sie auf Terzon und Bai.
„Eine Kugel für jeden von euch, wenn ihr den Sack nicht augenblicklich fallen lasst, ihr Ratten!“, knurrte er.
„Schert euch fort!“, knurrte Bai und nahm eine kampfbereite Pose ein, „wir waren zuerst hier unten und das Zeug ist unser!“.
„Eigentlich suchen wir unsere Sachen!“, sagte Terzon mit einem Lächeln, „für ein paar seidene Hemden und eine saubere Hose kriegt ihr den Sack!“.
Der Halbork stieß ein dröhnendes Lachen aus, während sein Kamerad noch immer mit grimmiger Miene auf die beiden Männer zielte.
„Ihr könnt hier nicht plündern!“, erklärte der Halbork, „alles auf diesem Schiff gehört nun Kapitän Quartez und seiner Besatzung! Also, gebt das Zeug her, bevor mein Kumpel hier euch das Licht ausbläst.“.
„Der Raum hinter uns ist bis unter die Decke voll mit Pulver!“, sagte Terzon ruhig,
„ihr solltet gut zielen und schnell schießen, wenn ihr nicht mit dem ganzen Kahn in die Luft fliegen wollt!“.
Der Halbork warf seinem Gefährten ein Grinsen zu und wandte sich dann wieder an die Männer.
„Nun gut“, sagte er und knirschte mit den Fäusten, „dann werde ich euch eben auf die gute, alte Weise Verstand einprügeln müssen!“.
Bai drückte Terzon den Sack in die Hand.
„Dann kommt her!“, sagte der Ork und nahm die Grundhaltung des Alapesh ein, „wenn ich euch besiegt habe, dann lasst ihr uns den Sack. Verstanden?“.
Der Halbork lachte erneut. Die Auseinandersetzung schien ihm Vergnügen zu bereiten.
„Abgemacht!“, sagte er. „Ich hoffe nur, deine Mutter erkennt dich noch wieder, wenn ich mit dir fertig bin!“.
Mit einem erstaunlich flinken Satz sprang der Hüne auf Bai zu und schlug auf den Ork ein. Eine leichte Drehung genügte Bai, um dem plumpen Angriff zu entgehen. Holzsplitter flogen, als die Faust des Hünen statt Bai den Türrahmen der Pulverkammer traf.
Bai trat dem Mann mit dem Knie in die entblößten Rippen und machte dann einen Satz zurück. Der Halbork rieb sich mit einer blutenden Hand die Seite.
„Das hat wehgetan!“, erklärte er, doch keinerlei Zorn lag in seiner Stimme.
Erneut sprang er vor; leicht geduckt, um Bai einen Kinnhaken zu verpassen, doch der Ork war schneller und schlug dem Angreifer die Faust mitten ins Gesicht.
Die Nase des Halborks brach und Blut spritzte. Taumelnd machte der Hüne einen Schritt zurück.
Bai nutzte die Gelegenheit und setzte ihm nach. Da schoss die Faust des Halborks vor und traf ihn wie ein Rammbock in die Magengrube. Die Wucht des Hiebes warf ihn zurück und er krachte gegen die Bordwand, wo er nach Atem ringen musste. Sterne tanzten vor seinen Augen.
„Weiter so, Tariq!“, johlte der Dhraal, „nimm’ ihn auseinander!“.
Der Halbork, aus dessen Nase das Blut strömte, stampfte mit geballten Fäusten auf ihn zu. „Jetzt werde ich dich gehörig durchklopfen, du Bast…“.
Weiter kam er nicht, denn Bai sprang auf ihn zu und trat ihm mit ausgestrecktem Bein direkt unters Kinn. Der Halbork stürzte, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Mit einem Krachen landete er auf dem Rücken.
Bai trat auf den benommenen Halbork zu; drohend die Fäuste erhoben.
Mit einem Keuchen hob der Mann, der Tariq genannt wurde, die Hand, bevor der Ork erneut zuschlagen konnte.
„Lass’ gut sein!“, keuchte er. Auch seine geschwollene, aufgeplatzte Lippe blutete. „Bei den Göttern, du hast mich ganz schön vermöbelt!“, sagte er mit einem Grinsen. Terzon sah amüsiert, daß der Kamerad des Halbork ungläubig auf seinen besiegten Gefährten starrte.
Bai griff nach der ausgestreckten Hand seines Gegners und half ihm wieder auf die Beine. Taumelnd stand der Halbork vor ihm.
„Behalt’ den Sack, du Bastard!“, sagte Tariq lachend und klopfte Bai auf die Schulter, „aber der Kapitän wird nicht so gnädig sein, wenn du darauf beharrst, ihn zu behalten!“.
„Dann fragen wir ihn doch!“, schlug Bai vor und wandte sich der Treppe zu.
Gefolgt von den beiden Piraten stampfte der Ork die Treppe hinauf. Terzon folgte den drei Männern mit einem gewissen Abstand.
Als sie wieder in den Raum über dem Ruderdeck gelangten, war der Kampfeslärm an Deck verstummt.

Bai und die beiden Piraten traten durch die offene Tür, doch Terzon blieb stehen.
Hastig schaute er sich um und blickte auf eine Tür, die am Ende des Ganges lag.
Sie war leicht geöffnet und Licht drang heraus.
Die edlen Schnitzereien, die die Tür bedeckten, ließen Terzon annehmen, daß sie in die Kajüte des Kapitäns der Glutwind führte. Das wäre sicher ein geeigneter Ort, um nach ihrer Ausrüstung zu suchen, dachte Terzon und schlich auf die Tür zu.
Hinter der Tür lag eine edel ausgestattete Kajüte.
Für die Unterkunft auf einem Schiff war sie sehr geräumig. Der Raum wurde von einer Petroleumlampe erhellt und der Geruch von Tabakrauch lag in der Luft.
Dicke bornesische Teppiche bedeckten den Boden und an den Wänden hingen Ölgemälde, die Seeschlachten zeigten.
Ein großer Kartentisch stand in der Mitte des Raumes, auf dem Karten, Lineale und ein Winkelmesser lagen. Ein Schreibtisch aus poliertem Holz stand auf einer Seite der Kajüte und auf der anderen sah Terzon eine Sitzgruppe mit edlen Polstermöbeln.
Wer auch immer der Kapitän der Galeere war, er schien Geschmack zu haben und Wert auf eine stilvolle Unterkunft zu legen.
Eine schmale Tür, die sich in einer der Wände befand, erregte Terzons Aufmerksamkeit.
Wie erwartet war diese Tür verschlossen und Terzon vermutete, daß der Kapitän der Glutwind dahinter seine persönliche Habe und andere Wertgegenstände aufbewahrte; vielleicht auch die gesuchte Ausrüstung.
Kurz entschlossen zog Terzon eine der Pistolen aus dem Hosenbund und zielte auf das Schloss.
„Ich an eurer Stelle würde das sein lassen!“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Als Bai mit seinen beiden Begleitern das Deck betrat, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung. Der Großmast der Glutwind war gebrochen und lag der Länge nach auf dem Deck. Teile der Reling waren an manchen Stellen zertrümmert und mehrere Felsbrocken lagen an Deck. Der Ork vermutete, daß diese mit einem Katapult auf die Galeere geschleudert wurden und so den Überfall eingeleitet hatten.
Der Geruch von Pulver und der Gestank von Blut lagen in der Luft.
Überall lagen die Leichen erschlagener Soldaten; ein Bild des Grauens.
Durch den Nebel, der die Glutwind umgab, konnte Bai die Silhouette eines unbeleuchteten Schiffes erkennen, das an der Backbordseite der Galeere festgemacht hatte. Der Ork konnte kaum etwas erkennen, war sich aber sicher, daß es sich bei diesem Schiff um die Abschaum handelte.
Auf dem Mitteldeck hatte sich eine Schar von Leuten gesammelt und Stimmengewirr war zu hören. Als Bai, der Halbork namens Tariq und der Dhraal sich der Menge näherten, konnte man Quartez’ Stimme hören.
„…ist es nun an uns, über diese Bastarde zu richten, die sich Sklaverei bedienen, um ihre Kriege führen zu können!“.
Die Menge johlte. Bai schätzte, daß es mindestens fünfzig Piraten waren, die sich im Halbkreis um ihren Anführer versammelt hatten, der auf einer Kiste stand.
Es waren allesamt verwegene Gesellen. Er sah Menschen unterschiedlichster Völker – vor allem Gwandalier und Bornesen, Hobgoblins und sogar Merkanier!
Jünglinge – jünger noch als Rahne – waren dort genauso zu sehen, wie Ältere mit grauen Bärten und faltigen Gesichtern. Sogar Frauen befanden sich unter ihnen, wie Sabetha bereits eindrucksvoll bewiesen hatte.
Trotz seiner besudelten und zerrissenen Häftlingskleidung stand Quartez stolz wie ein König vor seinen Leuten.
Bai fragte sich, wo Ragnolio war.
Ob der Magier das Geschehen heimlich von Bord der Abschaum beobachtete und solche Auftritte seinem Kapitän überlies?
Eine Gruppe von Soldaten und Offizieren des Schlachtschiffs – etwa vierzig Mann – hockten, dicht an einander gedrängt und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, auf dem Deck und wurden von etlichen Piraten mit angelegten Flinten in Schach gehalten.
Der größte Teil dieser Männer war verletzt; einige sogar schwer.
Der bewusstlose Lorush lag ebenfalls dort in einer Pfütze seines Blutes; ein Anblick, der dem Ork Unbehagen bereitete.
Der Soldat schien dort langsam zu verbluten und niemand scherte sich darum.
„Dein Platz ist dort drüben, Ork!“, raunte ihm Tariq zu und Bai sah, daß alle befreiten Rudersklaven – auch Rahne – in einer Gruppe an der Reling standen.
Auch sie wurden bewacht, wenn auch nicht so streng, wie die Soldaten.

Quartez blickte auf die Versammlung von Gefangenen, die ihn voller Furcht betrachteten.
„Wisst ihr, wer ich bin?“, fragte er ohne jemanden direkt anzusprechen.
Einige schüttelten den Kopf, doch die meisten blieben stumm.
„Mein Name ist Quartez!“, rief er und einige seiner Leute johlten. Mit einem missbilligenden Blick und einem Wink mit der Hand brachte er sie zum Schweigen.
„Ich bin der Kapitän der Abschaum! Ich bin sicher, daß viele von euch schon von meinem Schiff gehört haben…“.
Es hörte sich nicht an, als ersuche Quartez nach einer Bestätigung seiner Worte.
Voller Unbehagen schauten die gefangenen Soldaten zu ihm auf.
„An Bord eures Schiffes habe ich nicht den Respekt erfahren, der einem Mann wie mir gebührt! Im Gegenteil; ihr habt mich in meinem eigenen Dreck sitzen lassen und mich die Peitsche spüren lassen; wie Vieh, das man zum Schlachthof treibt!“.
Die Stimme des schwarzhäutigen Piraten schallte über das Deck. Einige Soldaten zitterten vor Angst und auch den drei Gefährten schwante, was nun folgen könnte.
„Nun hat sich das Blatt gewendet und nun möchte ich wissen, wem ich diese Behandlung an Bord eures Schiffes zu verdanken habe!“.
Prüfend musterte Quartez die Männer und stolzierte vor ihnen auf und ab.
Die meisten senkten ihren Blick, wenn er vorüber ging.

„Du da, steh’ auf!“, befahl Quartez plötzlich und deutete auf einen jüngeren Soldaten, der sich mit schlotternden Knien erhob. Seine Hose wies einen dunklen Fleck auf; er hatte vor Furcht die Kontrolle über seine Blase verloren.
Mit bleichem Gesicht schaute der Soldat Quartez an, als stände der Leibhaftige vor ihm.
„Sag’ mir Soldat“, knurrte der Pirat, „wer von euch ist der Kapitän dieses Schiffes?“ Bai warf Rahne heimlich einen verwunderten Blick zu.
Erkannte Quartez tatsächlich nicht, welcher der Besiegten der Kapitän der Glutwind war? In seinen Augen war das nur allzu offensichtlich…
Stammelnd starrte der junge Soldat auf seine Kameraden, als erhoffe er sich, daß ihm jemand beistände.
„Der da!“, rief er schließlich, „der da ist der Kapitän!“.
Er deutete auf einen älteren Gwandalier, der eine Teerjacke mit mehren Orden und Auszeichnungen trug.
Der Alte wurde blass, als Quartez ihn geringschätzig betrachtete.
„Eine ehrlose und abstoßende Bande seid ihr!“, fauchte Quartez und stieß dem jungen Soldaten vor die Brust, daß dieser in die Arme der Piraten taumelte, die hinter ihm standen.
„Hängt ihn auf!“, rief der Kapitän der Abschaum und deutete auf den Jüngling.
„Nein!“, brüllte der junge Soldat, als ihn zwei Piraten packten und ihm unsanft eine Schlinge um den Hals legten.
Das Schreien ging in ein Gurgeln über, als einer der Piraten die Schlinge zuzog und sein Kamerad das lose Ende des Stricks über die Rahe warf.
„Hoch mit ihm!“, rief Quartez und mit einem Ruck wurde der Mann nach oben gezerrt. Das Genick des Jungen brach krachend und als sie ihn bis zur Rahe hinaufgezogen hatten, war er schon tot.

Ein entsetztes Keuchen ging durch die zitternde Reihe der gefangenen Soldaten.
„Und jetzt zu euch, der seine Männer zu Feiglingen heran erzieht!“, zischte Quartez den Kapitän an. „Ihr widert mich an, Kapitän! Und unsereins bezeichnet ihr Soldaten, ihr Aufseher der Meere, als ehrlos? Ich hätte mich vor meine Männer gestellt und die Verantwortung für mein Handeln übernommen, wenn ich an eurer Stelle wäre!“.
Bai sah, daß einige der finster dreinblickenden Piraten nickten.
„Also, auf die Beine mit euch, wenn ihr ein Mann seid!“, brüllte Quartez.
Der Kapitän hatte scheinbar einen Streifschuss erlitten, denn ein Ärmel war zerfetzt und blutdurchtränkt.
Blass und mit dem Ausdruck von Furcht auf dem Gesicht erhob er sich.
Ein Pirat gab ihm einen Schubs, so daß er direkt vor Quartez stolperte, wo ihm ein anderer Soldat eine Schlinge um den Hals legte.
„Nein, Gnade!“, schrie der Mann, „ich habe doch nur meine Pflicht erfüllt!“.
Quartez musterte ihn unbewegt. „Seid ihr der Kapitän dieses Schiffes?“.
Der Mann nickte zaghaft.
„Dann habt ihr den Tod verdient!“, sagte Quartez kalt.
„Nein!“, brüllte der Mann erneut und Tränen strömten ihm über die Wangen, „das könnt ihr nicht machen, ich führe nur Befehle aus!“.
„Ihr führt Krieg gegen uns!“, erklärte Quartez. „Schon oft hat die Glutwind Piratenschiffe aufgebracht und wie ich hörte, seid ihr mit der Besatzung dieser Schiffe selten zimperlich umgesprungen.“.
„Ich habe meine Befehle gehabt!“, stammelte der Kapitän schluchzend.
„Wäret ihr ein Händler, der seine Waren wiederhaben wollte, hätte ich euch Pardon gewährt, doch ihr habt mit Piraterie nichts zu schaffen. Ihr kassiert euren Sold, um anderer Leute Kriege zu führen, Kapitän!
Ihr seid ein Söldner und so werden wir euch auch behandeln. Außerdem hat es euch nicht geschert, wie es euren Ruderern geht und habt sie von Sadisten schikanieren lassen. Ihr verdient den Tod, Kapitän. Ihr werdet hängen!“.
„Gnade!“, brüllte der Kapitän panisch und zwei Soldaten mussten ihn packen, damit er nicht davon lief.
„Gnade habt ihr von mir nicht zu erwarten, Kapitän.“, sagte Quartez kalt.
„Aber meine Männer sind möglicherweise gnädiger als ich! Das Wort jedes einzelnen hat ebenso viel Gewicht, wie das meine! Sollte also jemand unter ihnen sein, der Schonung für diesen Hund verlangt, möge er nun vortreten!“.
Quartez’ Blick schweifte über die Menge seiner Untergebenen.
Kaum jemand sagte etwas, andere riefen „Hängt ihn!“.
„Damit ist euer Schicksal besiegelt!“, stellte Quartez trocken fest, „hängt ihn auf!“.
Der Kapitän kreischte, als einer der Pirat den Strick der Schlinge um seinen Hals über einen Ausleger in der Takelage warf. Vier Männer packten das Ende des Stricks und zerrten den Verurteilten mit einem Ruck in die Höhe.
Der Kapitän würgte und nässte sich ein; dann brach mit einem Knacken sein Genick und der Leichnam baumelte von der Segelstange.

„Der Nächste!“, brüllte Quartez wie die teuflische Variante eines Quacksalbers.
Als nächstes folgten die Offiziere. Jedem von ihnen warf Quartez die Verfolgung von Piraten und die Quälerei der Rudersklaven vor und fragte seine Männer, ob es Gründe gäbe, den Angeklagten zu verschonen.
Die Todgeweihten schrieen und jammerten, doch nichts von dem, was sie stammelten, konnte das Herz des Kapitäns der Abschaum erweichen.
Wenn kein Einspruch ertönte, ließ Quartez den Gefangenen hängen.
Mit wachsendem Unbehagen beobachtete Bai, wie Quartez ein Todesurteil nach dem anderen sprach.
Bei jedem neuen Leichnam, der von der Rah baumelte, jubelten die Piraten.

Terzon wirbelte herum und sah sich einem Mann gegenüber, der sich hinter dem Schreibtisch erhoben hatte. Der Unbekannte warf einen Stoß Papiere auf den Tisch, den er vermutlich aus den Fächern des Tisches gezogen hatte.
Aufmerksam musterte Terzon den Fremden. Der Mann war ein braungebrannter Gwandalier mittleren Alters von schmächtiger Statur.
Er trug einen sauber gestutzten, schwarzen Bart an Oberlippe und Kinn.
Sein ebenfalls kurzes Haupthaar war licht und zeigte den Beginn einer Halbglatze.
Er trug ein einfaches, schwarzes Gewand, das ihm bis zu den Füßen reichte und war gänzlich unbewaffnet; zumindest auf den ersten Blick.
Nervosität machte sich in Terzon breit. War das Ragnolio?
Der Mann hatte eine fast abgebrannte Zigarre zwischen den Lippen, die er aus dem Mund nahm und beäugte. Kopfschüttelnd ließ er eine Flamme in seiner Handfläche entstehen und brachte die Zigarre paffend wieder zum Glühen.
„Ihr habt da nichts zu suchen“, sagte der Fremde während er einen Rauchring ausblies und auf die Tür deutete.
„Ich suche meine Sachen“, erklärte Terzon. „Die müssen hier irgendwo sein! Schaut euch an, wie ich aussehe!“.
„Hier findet sich sicher irgendwo etwas zum Anziehen“, sagte der Mann gleichgültig, „aber zu diesem Raum habt ihr keinen Zutritt. Dort hat der Kapitän dieses Schiffes seinen Besitz und es bleibt Quartez vorbehalten, als Erster die Beute zu sichten.“.
„Wer seid ihr?“, fragte Terzon, der den Worten des Fremden entnahm, daß es sich bei diesem nicht um Ragnolio handeln konnte.
„Mein Name ist Corvadan“, antwortete der Fremde, „ich bin der Bordmagier der Abschaum.“.
„Und ich bin Kapitän Terzon von der Seehure!“, stellte Terzon sich stolz vor, „auch wenn ich augenblicklich nicht so aussehe. Hinter dieser Tür befindet sich möglicherweise mein Besitz. Lasst uns wenigstens öffnen, damit ich nachschauen kann!“.
„Nein!“, antwortete Corvadan mit Nachdruck.
„Jegliche Besitzansprüche könnt ihr mit meinem Kapitän – Quartez – klären. Ich bin mir sicher, daß es ihm eine Freude sein wird, Kapitän Terzon!“.
Der Sarkasmus in der Stimme des Bordmagiers war unüberhörbar.
„Dann werde ich eben stinkend wie ein Latrinenwärter um ein Gespräch mit eurem Kapitän bitten!“, entgegnete Terzon gereizt. „Tut das!“, antwortete Corvadan ungerührt und deutete zur Tür. „Ich werde euch begleiten!“.

Als Terzon in Begleitung des Bordmagiers das Deck betrat, hing schon eine ansehnliche Zahl Gehängter von der Rahe.
Die Piraten hatten alle Hände voll zu tun, die verbliebenen Soldaten der Glutwind zu bändigen, die ihren eigenen Tod nahen sahen und schreiend und zappelnd versuchten, diesem Schicksal zu entgehen.
In diesem Moment kam Ilm, der Peitscher dran und wurde vor Quartez geführt.
„Hängt den an den höchsten Mast!“, brüllte der Hobgoblin, der neben Bai stand. „Wenn einer den Tod verdient hat, dann der!“.
Auch Bai fühlte eine grimmige Genugtuung, als er die Todesangst auf den Zügen des teuflischen Peitschers sah.
„Gnade!“, wimmerte auch Ilm, „ich habe nur die Anweisungen meines Offiziers befolgt! Hätte ich die Gefangenen nicht gezüchtigt, hätte man mich selbst bestraft!“.
Quartez ließ sich von diesen Worten nicht erweichen und als er fragte, ob jemand dafür eintreten wolle, daß der Mann verschont wird, antwortete ihm nur Schweigen.
Schließlich trat Bai vor und verwundert schauten Piraten und Mitgefangene ihn an.
Quartez grinste. „Wohl an, hässlicher Ork, wollt ihr euch für diesen Mann verwenden? Ihr gehört nicht zu meiner Besatzung und euer Wort hat hier kein Gewicht!“.
Dennoch glomm ein Funke von Hoffnung in Ilms Augen.
„Lasst mich gleichwohl sprechen!“, forderte Bai mit fester Stimme und als kein Widerwort erklang, sprach er weiter.
„Ich zweifle nicht euer Urteil an, Quartez!“, erklärte Bai, „nur die Art des Todes ist den Taten dieses Ungeheuers nicht angemessen!“.
Mehrere der anderen Ruderer nickten bei diesen Worten.
Der Peitscher erbleichte, als er begriff, daß er von Bai keine Rettung zu erhoffen hatte.
„Was schlagt ihr also vor?“, fragte Quartez und schaute Bai abschätzend an.
„Dieser Mann – Ilm, der Peitscher – hat einen Gefangenen mit den Hieben seiner Peitsche so lang traktiert, bis er sein Leben aushauchte. Ich verlange, daß ihr Gleiches mit Gleichem vergeltet!“.
Ein Raunen ging durch die Menge der Piraten und viele musterten den Ork neugierig.
„Der Tod ist Strafe genug!“, erklärte Quartez. „Ich bin niemand, der Männer quält, bevor er sie zu den Göttern schickt! Doch wenn ihr eine solche Strafe fordert, müsst ihr Mann genug sein, sie auch zu vollstrecken.“.
Bai trat einen Schritt vor und musterte Ilm mit hasserfülltem Blick.
„Das bin ich!“, sagte der Ork grimmig.
„Peitsche!“, befahl Quartez, „und bindet das Scheusal an den Mast!“.
Mehrere Piraten packten Ilm und zerrten ihn an der Schlinge um seinen Hals zu dem Stumpf des Großmastes, wo er so gefesselt wurde, daß er Bai das Gesicht zuwandte.
„Nein!“, jammerte er, „verzeiht mir! Habt Erbarmen!“.
Quartez trat zu Bai und legte ihm die Peitsche in die Hand.
„Denkt daran, Ork“, sagte er, „daß man euch in Zukunft an dieser Tat messen wird!“.
Bai nickte und griff sich die Peitsche.

Er hörte das Flüstern der Menge hinter sich, als er die Peitsche entrollte und prüfend durch die Luft sausen ließ.
Voller Verachtung starrte Bai dem Peitscher in die Augen.
„Bitte nicht!“, flehte Ilm.
Rahne und Terzon warfen einander einen beunruhigten Blick zu.
Dann ließ der Ork die Peitsche auf den gefesselten Dhraal niedersausen.
Die Eisenkügelchen rissen eine üble Wunde auf Brust und Bauch des Gefesselten.
Ilm heulte vor Schmerz. Wieder ließ Bai die Peitsche sausen, wieder und wieder.
Blut und Hautfetzen spritzten und viele der Männer, die die brutale Hinrichtung beobachteten, wendeten angeekelt den Blick ab.
Bai jedoch schlug ohne Unterlass auf den fetten Peitscher ein, dessen gellende Schreie sich in ein gurgelndes Keuchen verwandelten.
Gesicht und Oberkörper des Mannes verwandelten sich mit jedem Hieb mehr in eine blutige Masse und Bai schlug unbeeindruckt weiter auf seinen ehemaligen Peiniger ein, bis dieser erschlafft in den Fesseln hängen.
„Genug!“, befahl Quartez schließlich, „es reicht!“.
Bai ließ die vor Blut triefende Peitsche zu Boden fallen und stampfte mit unbewegter Miene zurück zu den Ruderern.
Der Ork spürte die Blicke der Piraten in seinem Rücken, doch dann ergriff Quartez wieder das Wort und setzte seine Verhandlung fort.
Den übrigen Gefangenen musste das Urteil des Kapitäns wie ein Gnadenakt vorkommen, im Vergleich zu dem, was sie gerade gesehen hatte.

Schließlich verblieb nur noch Lorush, der ohnmächtig auf dem Boden lag.
„Dieser hier kann weder Rede noch Antwort stehen!“, erklärte Quartez.
„Werft ihn über Bord. Wir überantworten ihn Navirs Gnade!“.
Zwei Piraten wollten den schwer verwundeten Soldaten gerade packen, als Bai abermals vortrat.
„Halt!“, sagte der Ork, „dieser Mann hat den Tod nicht verdient! Ich verlange, daß man ihn am Leben lässt!“.
„Der ist doch schon so gut wie tot!“, sagte einer der Piraten.
„Erklärt euch!“, sagte Quartez und machte nun ein paar Schritte auf Bai zu.
Der Kapitän der Abschaum wirkte erstaunt über die Forderung des Orks.
„Erst straft ihr den Peitscher auf barbarische Weise und dann tretet ihr für einen Soldaten ein, der die Nacht vermutlich nicht überleben wird? Ihr erstaunt mich, hässlicher Ork!“.
Bai ignorierte den wiederholten Seitenhieb auf sein Aussehen und schaute den Kapitän mit festem Blick an.
„Er mag ein Soldat gewesen sein, wie die anderen auch“, sagte Bai schließlich, „doch er hat mich gut behandelt. Er war stets freundlich und hat sich bemüht, mir meine Situation als Rudersklave zu erleichtern. Der Mann hat ein gutes Herz und ich bin dagegen, daß ihr ihn über Bord werft!“.
„Gut gesprochen!“, sagte Quartez anerkennend und wandte sich dann an die restlichen Männer. „Gibt es jemanden unter euch, der gegen den Einwand des Orks etwas vorzubringen hat?“.
Bai schaute sich vor allem unter den Ruderern um, doch keiner verzog eine Miene oder sprach ein Widerwort.
Zwar sah der tätowierte Hobgoblin aus, als hätte er Lorush gern am Galgen gesehen, doch ein finsterer Blick Bais ließ ihn schweigen.
„Dann überlassen wir den Mann seinem Schicksal!“, erklärte Quartez und wandte sich an Bai. „Verfahrt mit ihm, wie es euch beliebt!“.

Dann marschierte Quartez auf die Gruppe der ehemaligen Rudersklaven zu.
„Euch schenke ich die Freiheit!“, rief er und viele der Männer jubelten erleichtert.
„Ihr könnt wählen, wohin ihr geht und was ihr tut, doch seid euch bewusst, daß ihr von nun an entflohene Gefangene seid und man euch in euren Heimatländern möglicherweise nicht wohl gesonnen ist!“.
Die Männer nickten und einige wirkten besorgt.
„Sollte es unter euch jedoch Männer geben, die sich uns anschließen wollen, so tretet vor!“, sagte der Schwarzhäutige und ließ seinen Blick über die Menge der verdreckten Männer schweifen.
„Männer mit Mut und Rückgrat, die die Segelkunst beherrschen und sich nicht vor dem Zorn Navirs fürchten, kann ich immer gebrauchen!“.
Entschlossen traten Rahne, Terzon, Bai und eine Handvoll weiterer Männer vor.
Unter ihnen war auch der tätowierte Hobgoblin, der Lorush erschossen hatte.
Der Kapitän der Abschaum musterte jeden einzelnen von ihnen.
„Nun, Männer“, sprach Quartez, „wisset, daß der Weg, den ihr einzuschlagen gedenkt, ein harter und entbehrlicher Weg ist, von dem es kein Zurück gibt!
Sobald ihr die Abschaum betretet, werdet ihr Verstoßene sein; Geächtete!
Man wird euch jagen, töten oder in den Kerker werfen, wenn man eurer habhaft wird. Bedenkt das! Wir mögen Piraten sein, doch wir sind keine gesetzlose Meute!
In unserer Gemeinschaft bestehen strenge Regeln, von denen es keine Abkehr gibt! Ich bin der Kapitän der Abschaum und ich verlange Gehorsam!
Deserteure, Diebe und Meuterer kann ich auf meinem Schiff nicht brauchen!
Wenn ihr euch nicht unterordnen könnt, dann betretet mein Schiff nicht!“.
Quartez deutete auf die Silhouette der Abschaum, die längsseits auf der anderen Seite des Decks vertaut war.

„Dort drüben herrsche ich! Und ihr werdet gehorchen! Man verlässt mein Schiff nur, wenn ich es erlaube. Habt ihr das verstanden?“.
Die Männer nickten und einer trat schnell wieder zurück in den Kreis jener, die sich den Piraten nicht anschließen wollten. Quartez lächelte.
„Aber die, denen ich erlaube, die Abschaum zu verlassen, weil sie sich mit aller Kraft für unsere Sachen eingesetzt haben und für ihre Kameraden eingestanden sind, werden als reiche Männer gehen! An Bord meines Schiffes werdet ihr in einem Jahr mehr Gold einstreichen, als ihr als ganiordischer Bauer in einem ganzen Leben zu Gesicht bekommt! Ich biete euch Reichtum, Ruhm, Abenteuer und die Wunder der weiten Welt im Tausch für Mut, Aufrichtigkeit und Gehorsam!“.
Rahne musste unweigerlich an die Rekrutanten der Gilde der Überseefahrer in Glazuria denken, als er Quartez’ Worte hörte.
„Seid euch jedoch bewusst“, fuhr der Kapitän fort, „daß ihr noch nicht zu meiner Besatzung gehört, wenn ihr mein Schiff betreten wollt.
Diesen Platz müsst ihr euch erst verdienen!
Bis ihr euch diesen Platz verdient habt, werdet ihr an Deck schlafen! Jeder der Mannschaft kann euch Befehle erteilen!
Ihr werdet die unliebsamsten Arbeiten erledigen und ihr werdet euch nicht beklagen, sonst droht die Peitsche!
Ihr bekommt keinen Anteil von der Prise und ihr werdet die ersten sein, die ein aufgebrachtes Schiff entern und mit dem Gegner die Klingen kreuzen! So ist unser Gesetz! Und erst, wenn ihr euch so bewährt habt, seid ihr Gleiche unter Gleichen!“.

Quartez schritt mit prüfendem Blick die Reihe seiner Rekruten ab und schaute jedem ins Gesicht. Terzon grinste ihn an, doch der Schwarzhäutige verzog keine Miene.
Dann wandte er sich seiner Mannschaft zu und deutete auf die Reihe der Männer.
„Diese Kerle wollen sich euch anschließen! Schaut sie euch gut an und wenn jemand einen Einwand dagegen hat, sie an Bord zu nehmen, so soll er jetzt sprechen!“.
Tariq, der Halbork deutete auf Bai. Ein Schauer lief dem Ork über den Rücken. Würde der Hüne sich gegen ihn aussprechen? Das wäre eine Katastrophe und sein Leben quasi verwirkt! Bai fürchtete, daß die Bestrafung des Peitschers die Mannschaft der Abschaum gegen ihn aufgebracht haben könnte.
Nervös betrachtete er den Mann.
„Tariq, mein Quartiermeister!“, rief Quartez, „was hast du vorzubringen?“.
„Der orkische Bastard ist ein zäher Bursche!“, rief der Halbork. „Mit dem werdet ihr noch ’ne Menge Spaß haben! Wenn ihr mich fragt, dann nehmt ihn an Bord!“.

Bai fiel ein Stein vom Herzen und Quartez betrachtete seine Rekruten mit einem zufriedenen Grinsen.
„Nun“, sagte er, „das Schweigen der restlichen Mannschaft ist ein Einverständnis! Ihr Bastarde dürft mit uns segeln!“.
Bai, Terzon und Rahne tauschten einen erleichterten Blick.
„Und ihr“, rief Quartez an die übrigen Männer gerichtet, „könnt die Boote der Glutwind nehmen! Es gibt genug für alle. Wir befinden uns nördlich der Nebelstraße und Orgish liegt nicht weit im Osten. Die See ist ruhig und wenn ihr euch in die Riemen legt – genug Übung hattet ihr ja – dann werdet ihr die Küste bei Morgengrauen erreichen! Auf Orgish wird man euch freundlich aufnehmen, zumindest freundlicher als in Ganiordaes!“.
Die Männer jubelten und viele dankten dem schwarzhäutigen Kapitän.
„Beeilt euch!“, mahnte Quartez, „wenn wir die Laderäume geplündert haben, setzen wir das Schiff in Brand! Seht zu, daß ihr euch dann nicht mehr an Bord befindet.“.
Die Menge löste sich auf und die Piraten begannen, das Schiff zu plündern, während die befreiten Gefangenen eilig die Beiboote der Galeere zu Wasser ließen.

„Was ist mit diesem Kerl?“, fragte Terzon nervös, als Bai sich zu Lorush hinabbeugte.
Der Soldat atmete flach. Er war blass im Gesicht vom Blutverlust.
„Sollen die Anderen ihn mit nach Orgish nehmen!“, sagte der Ork und hob den Verwundeten vorsichtig hoch. „Wenn er bis dahin durchhält und sie ihn einem Heiler übergeben, kann er vielleicht überleben.“.
„Mach’ das“, flüsterte Terzon, „ein Sorgenkind wie den können wir überhaupt nicht gebrauchen!“.
Als Bai in Lorushs bleiches Gesicht schaute, überkamen ihn Zweifel an den eigenen Worten.
Behutsam trug er ihn über das Deck auf eine Gruppe von Männern zu, die gerade ein Boot seeklar machten.
„Ork…“, hörte er Lorush plötzlich stöhnen. Er schaute auf den Mann in seinen Armen und sah, daß dieser die Augen aufgeschlagen hatte und ihn aus glasigen Augen anschaute. „Lorush“, sagte Bai betreten, „man wird euch mit einem Boot an Land bringen und einen Heiler für euch finden!“.
Bai hoffte, daß die Männer seiner Bitte auch wirklich folgen würden und ihn nicht einfach über Bord warfen. Schließlich war Lorush in den Augen der übrigen Rudersklaven nur ein verhasster Soldat.
„Es…tut …weh…“, keuchte Lorush und ein dünnes Rinnsal Blut floss ihm über die Lippen. „Halt durch, Lorush!“, sagte Bai und ging weiter auf das Boot zu.
Der junge Soldat tat ihm leid, doch Terzon hatte Recht. Er würde sie nur behindern, zumal Quartez ihm die Verantwortung für den Mann zugesprochen hatte.
Und auch wenn er nett zu ihm gewesen war, was war er Lorush schon schuldig?
Der Mann hätte lediglich seine Pfeife mit ihm geteilt und sonst nichts!
„Gaslo…“, keuchte der Verwundete.
Bai erstarrte.
„Gaslo…“, presste Lorush erneut hervor.
„Was redet ihr da?“, fragte Bai und hielt sein Ohr dicht an Lorushs Mund, um sicherzugehen, daß er nichts Falsches verstanden hatte.
„Meine Braut…“, ächzte Lorush, „Gaslo, meine schöne Braut!“.
Bai war wie vom Donner gerührt. „Meine bornesische Blume…“, keuchte der Soldat.
Ein Hustenanfall förderte einen weiteren Blutschwall zu Tage.
„Sag’ ihr, daß ich sie liebe!“, keuchte der Verwundete.
„Wo ist sie?!“, fragte Bai aufgeregt. Fieberhaft arbeiteten seine Gedanken.
Gaslo. Bornesin. Lorush kam aus Glazuria.
Es war kaum möglich, daß dort eine zweite Bornesin mit diesem außergewöhnlichen Namen herumlief, die Männern den Kopf verdrehte.
Hlom hatte ihm erzählt, daß Gaslo ein Hobgoblin-Name war; unter den menschlichen Völkern kaum verbreitet.
„Gaslo….“, faselte Lorush erneut und dann fielen ihm die Augen zu.
Verdammt, dachte Bai.
Doch Lorush atmete noch und hatte nur das Bewusstsein verloren.
Bai machte eine Kehrtwendung und marschierte nun auf die Abschaum zu.
Terzon kam angelaufen und hielt ihn am Arm fest.
„Bai, was machst Du? Du wolltest den Kerl doch den anderen Männern mitgeben! Was soll das?“.
„Wir nehmen ihn mit!“, erklärte der Ork entschlossen.

Terzon stand mit offenem Mund da und starrte Bai an.
„Das kannst Du nicht machen!“ flüsterte er energisch, doch Bai stampfte weiter und ließ seinen Gefährten einfach stehen.
Als er die Planke zum Schiff der Piraten überquerte, stellte sich ihm Quartez in den Weg. „Ihr wollt ihn mitnehmen?“, fragte der Kapitän entgeistert.
„Es geht nicht anders!“, versuchte Bai zu erklären. „Gibt es an Bord eures Schiffes einen Heiler?“.
Quartez schaute dem Ork mit stechendem Blick in die Augen.
Der Kapitän schien von Bais Handeln ganz und gar nicht begeistert zu sein.
Bai versuchte, dem einschüchternden Blick des unheimlichen Kapitäns standzuhalten und nicht an die vielen Soldaten zu denken, die Quartez eben kaltblütig hatte hängen zu lassen.
„Verzeiht, Quartez, aber ich muss ihn mitnehmen“, stammelte Bai, „ich bin…“.
Quartez wandte sich von dem Ork ab und rief den Quartiermeister herbei, der in der Nähe das Laden der Beute überwachte.
„Tariq! Habt ihr während meiner Abwesenheit das Priester-Problem gelöst?“.
Der hünenhafte Halbork senkte den Blick.
„Leider nicht, Kapitän“, erklärte er betreten, „wir konnten während der letzten Wochen nirgendwo einen Priester auftreiben, der mit uns segeln wollte. Es tut mir leid.“.
„Schon gut“, sagte Quartez und klopfte dem beschämten Quartiermeister auf die Schulter.
„Wir haben keinen Heiler!“, erklärte Quartez dem Ork. „Jemandem, der die Wunde versorgt, werden wir schon auftreiben können, aber mehr kann ich nicht für ihn tun. Euer Schützling hier ist also auf seine eigene Kraft und den Beistand der Götter angewiesen! Und denkt daran, hässlicher Ork, daß ihr für diesen Kerl die Verantwortung übernommen habt! Ich werde das nicht vergessen, falls er das tatsächlich überleben sollte! Überlegt euch also genau, wofür ihr betet!“.

Fortsetzung unter: Kapitel 5 : Abschaum

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